Sebastian Voigt
Essentials der Antisemitismuskritik
Es soll versucht werden, die grundlegenden Elemente des antisemitischen
Weltbildes darzulegen. Eine Beschäftigung mit diesem Thema ist kein
voluntaristischer Akt, es ist kein Thema unter anderen, mit dem man sich eben
auch mal so auseinandersetzen muss. Es ist nicht einfach ein Thema, das
pflichtschuldig abgehandelt werden und danach ad acta gelegt werden kann. Es
ist mehr als nur ein weiterer Widerspruch im linken Kanon.
Genau deshalb gibt es auch Gründe für die Vehemenz der
Auseinandersetzung in den letzten Jahren. Die Auseinandersetzung mit dem
Antisemitismus und die ideologietheoretisch fundierte Kritik desselben
markieren die zentralen Topoi, an denen eine progressive Position ihre Geltung
zu erweisen hat. Die Verkennung der Zentralität der Auseinandersetzung mit
dem Antisemitismus zieht sich durch die linke Geschichte. So ist es keineswegs
als allgemein akzeptiert vorauszusetzen, was Max Horkheimer schon vor einigen
Jahrzehnten in einem Brief an Harold Laski formuliert hat: So wahr es
ist, dass man den Antisemitismus nur aus unserer Gesellschaft heraus verstehen
kann, so wahr scheint es mir zu werden, dass heute die Gesellschaft selbst nur
durch den Antisemitismus richtig verstanden werden kann.
Die Linke hat auch nach der Ermordung der europäischen Juden die
Erkenntnisse der kritischen Theorie und der Psychoanalyse nicht adäquat
rezipiert. Die Shoah wurde nicht als der Zivilisationsbruch aufgefasst, der sie
war und deshalb wurden auch die daraus sich ergebenden Implikationen für
die Neubestimmung einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik nicht gezogen,
wie etwa die Absage an ein revolutionäres Subjekt. Stattdessen kam es in
der Neuen Linken zu einer Verschiebung vom Proletariat hin zu
Befreiungsbewegungen im Trikont, die nicht selten einen evident
reaktionären Charakter hatten und noch immer haben.
Der unbedingte Wille zur Praxis und der Bewegungsfetischismus, der sich heute
etwa in der Mobilisierung nach Heiligendamm gegen den G8- Gipfel zeigt, sind
meist ein Hindernis zur begrifflichen Durchdringung eines Gegenstandes. Nur
durch konsequentes, insistentes Denken jedoch, das den Anspruch hat, die
Gesellschaft in ihrer widersprüchlichen Totalität auf den Begriff zu
bringen, ohne sich primär darum zu kümmern, was dies unmittelbar
für das politische Agieren oder für eine linke Bewegung und ihre
Mobilisierungsfähigkeit bedeutet, könnte die Grundlage geschaffen
werden, aus der sich eine richtige Praxis ergibt.
Gerade in puncto Antisemitismus ist eine theoretische Auseinandersetzung
unumgänglich, weil ihr erkenntnistheoretischer Gehalt weit über den
scheinbar partikularen Gegenstand hinausreicht und allgemeine Einsichten in die
Konstitution der kapitalistischen Gesellschaft impliziert. Der Grund dafür
ist, dass antisemitische Denkmuster aufs Engste mit der kapitalistischen
Vergesellschaftung verwoben sind. Es sind grundlegende Ideologeme, die die
kapitalistische Gesellschaft immer wieder aus sich heraus hervorbringt, d.h.
sie haben eine zentrale Stellung innerhalb des gesellschaftlichen
Verblendungszusammenhang. Diese Ideologeme sind in aller Kürze dazulegen.
In der antisemitischen Weltsicht werden in den Juden abstrakte, unverstandene
gesellschaftliche Verhältnisse personifiziert. Die Juden erscheinen als
die Verursacher und die Profiteure der Moderne mit all ihren Verwerfungen. Eine
derartige Sicht auf die kapitalistische Gesellschaft verkennt, dass ihre
Imperative hinter dem Rücken der Akteure sich Geltung verschaffen.
Sicherlich gibt es keine subjektlose Gesellschaft, aber auch die Kapitalisten
exekutieren lediglich die systemischen Zwänge und zwar, um mit Marx zu
sprechen, bei Strafe des Untergangs.
Die Komplexität der Moderne wird von vielen Menschen nicht durchschaut und
so erscheinen als abstrakt wahrgenommene Teilphänomene die
Hauptgründe für alles Unheil auf der Welt zu sein. Der Hass auf das
Abstrakte geht mit einer Hypostasierung des Konkreten einher. Während das
Geld, die Börse und das spekulative Kapital als die Übel schlechthin
erscheinen, wird der souveräne Nationalstaat affirmiert und im schlimmsten
Fall gibt es einen positiven Bezug auf ein vormodernes Ideal der
bäuerlichen Scholle. Ein aktuelles Beispiel für diese Form der
antisemitisierenden Argumentation ist die Heuschrecken-Metaphorik, die gerade
in linkspopulistischer Form einen neuen Aufschwung erlebt. Kennzeichnend
für sie ist eine künstliche Trennung der Totalität der
kapitalistischen Gesellschaft in Zirkulations- und Produktionssphäre.
Während das Finanzkapital heftig kritisiert wird, wird nicht über die
Ausbeutung und Mehrwertabschöpfung in der Produktionssphäre geredet.
Da aus historischen Gründen, die Juden in Zusammenhang mit Geld, Zins und
Börse gebracht werden, läuft eine Kritik an der
Zirkulationssphäre immer Gefahr antisemitisch zu sein. Dies ist nicht
zwangsläufig der Fall. Die Argumentation ist aber definitiv nicht
progressiv und auch keine verkürzte Kapitalismuskritik, wie es
häufig genannt wird. Sie ist Ausdruck einer ideologischen Sicht auf die
Gesellschaft. Insofern ist es auch kein Zufall, dass die Unterscheidung von
raffendem und schaffendem Kapital bei den Nazis von eminenter Bedeutung war und
dies bei der NPD bis heute ist. Die Agitation der NPD gegen das internationale
Kapital, gegen Globalisierung und gegen den liberalen Kapitalismus ist nicht
etwa der Versuch an linke Positionen anzuknüpfen, vielmehr sind dies
selbst genuin nazistische Positionen.
Ein weiteres zentrales Moment des Antisemitismus ist ein Manichäismus, der
die Welt in gut und böse aufteilt und der Differenzierungen und
Ambivalenzen in der eigenen Position nicht zulässt. Dahinter steht das
psychologische Bedürfnis nach einer klaren Orientierung und einer klaren
Freund-Feind-Bestimmung. Gesucht wird moralische Eindeutigkeit, um sich auf die
Seite des Guten schlagen zu können. Dieses Element zeigt sich heute auch
ganz deutlich in der Feindschaft gegen Amerika, im Antiamerikanismus. Dieser
ist keineswegs identisch mit dem Antisemitismus, aber es gibt viele
Überschneidungen. Wenn etwa bei globalisierungskritischen Protesten der
ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld mit einem gelben
Davidstern mit der Aufschrift Sheriff gezeigt wird oder wenn der
amerikanische Präsident Bush als Marionette des Weltjudentums oder
selbst als Strippenzieher des Weltgeschehens dargestellt wird, dann ist die
Grenze zum Antisemitismus deutlich überschritten.
Ein weiteres konstitutives Element des Antisemitismus sind
Kollektivkonstruktionen. Im Zuge der Herausbildung moderner Nationalstaaten in
Europa bedurfte es eines Negativums zur Konstitution der eigenen Gemeinschaft.
Die Funktion dieses Anderen hatten häufig die Juden. Dies
lässt sich historisch für Deutschland zeigen, gilt aber auch für
andere Länder, wie z.B. die Dreyfus Affäre in Frankreich im
ausgehenden 19. Jahrhundert zeigt.
Der Antisemitismus erfüllt des Weiteren ein sozialpsychologisches
Bedürfnis kapitalistisch vergesellschafteter Subjekte. Er dient der
Projektion eigener abgespaltener, nicht eingestandener Wünsche in die
Figur des Juden, die dann bekämpft wird. Adorno und Horkheimer
formulierten dies in der Dialektik der Aufklärung wie folgt: Der
Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil es überhaupt
erst Glück wäre. Das Hirngespinst von der Verschwörung
lüsterner jüdischer Intellektueller, die den Bolschewismus
finanzieren, steht als Zeichen eingeborener Ohnmacht, das gute Leben als
Zeichen von Glück. (...) Der Bankier wie der Intellektuelle, Geld und
Geist, die Exponenten der Zirkulation, sind das verleugnete Wunschbild der
durch Herrschaft verstümmelten, dessen die Herrschaft sich zu ihrer
eigenen Verewigung bedient. (Dialektik der Aufklärung, S. 196f.)
Die benannten Elemente finden sich bis heute im antisemitischen Weltbild,
allerdings ist noch auf die Veränderung einzugehen, die der Antisemitismus
nach der Befreiung vom Nationalsozialismus durchgemacht hat. Vor allem im
postnationalsozialistischen Deutschland ist dies von besonderer Relevanz. Die
traditionelle Form der Judenfeindschaft war nach der Befreiung in beiden
deutschen Staaten tabuisiert, weswegen eine Verschiebung stattfand. Der
sekundäre Antisemitismus hasst die Juden nicht trotz, sondern wegen
Auschwitz. Jeder einzelne Jude ist die permanente Erinnerung an die deutschen
Verbrechen und somit ein Hindernis auf dem Weg zur Herausbildung einer
positiven Haltung zur deutschen Nation und zur deutschen Geschichte.
Psychologisch herrscht in der deutschen Gesellschaft das Bedürfnis nach
Schuldentlastung vor. Dieses Bedürfnis wird bis heute perpetuiert und
zeigt sich in allen aktuellen Umfragen über Antisemitismus in Deutschland.
Angenommen wird etwa, die Juden nutzten bewusst die Vergangenheit für ihre
Zwecke aus. Auch das Lamentieren über die Auschwitzkeule ist ein
regelmäßiges Moment des deutschen Diskurses sowohl am Stammtisch als
auch in der politischen Klasse.
Eine andere Möglichkeit, sich von der Last der deutschen Vergangenheit zu
befreien, ist es, die begangenen Verbrechen zu externalisieren, also nach
außen zu projizieren. Wenn andere das gleiche machen wie die Nazis, dann
können die ja so schlimm nicht gewesen sein.
Es finden sich zuhauf Vergleiche der amerikanischen Politik mit dem
nationalsozialistischen Deutschland in der Friedensbewegung und diese Position
ist keine unbedeutende Minderheitenposition. Vielmehr wird sie immer mal wieder
von führenden Repräsentanten artikuliert, etwa von der ehemaligen
Justizministerin Däubler Gmelin in Bezug auf den Irakkrieg.
Noch verbreiteter ist es jedoch, die israelische Politik mit dem
Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen oder gar gleichzusetzen. Die
deutschen Bischöfe, die in den palästinensischen Gebieten, die
Wiederkehr des Warschauer Gettos herbeihalluziniert haben, befinden sich im
gesellschaftlichen Mainstream. So stimmten nach einer Umfrage des
Sozialpsychologen Heitmeyer ca. 80% der Befragten der Aussage zu, dass Israel
einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser führe. Der
Terminus Vernichtungskrieg ist kein neutraler Begriff, sondern
historisch eindeutig konnotiert. Einen Vernichtungskrieg hat die
deutsche Wehrmacht in Osteuropa geführt. Eine Position, die Israel in
irgendeiner Weise mit dem nationalsozialistischen Deutschland in Verbindung
bringt, ist weit entfernt von einer politisch motivierten Kritik. Sie ist pures
antisemitisches Ressentiment.
Wie zu Beginn betont, hat die Beschäftigung mit antisemitischer Ideologie
einen zentralen Stellenwert in der Neukonstituierung einer emanzipatorischen
Gesellschaftstheorie. Lange Zeit hat die Linke versucht, an ein vermeintlich
fortschrittliches Potential im Antisemitismus anzuknüpfen. Paradigmatisch
kommt diese in einem Bebel zugeschriebenen Zitat zum Ausdruck. Es lautet:
Der Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls. Diese
unrühmliche Tradition setzt sich heute in dem Versuch fort, an andere
reaktionäre Ideologien anzuknüpfen, etwa wenn Oskar Lafontaine die
Affinitäten zwischen linkem Gedankengut und dem Islam betont und dabei auf
das Zinsverbot rekurriert. Wichtig ist es vielmehr, dass reaktionäre
Potential von Ideologien klar zu benennen. Es darf keinerlei
Anknüpfungspunkte für eine Querfrontpolitik geben, weswegen der linke
Populismus ebenso abzulehnen ist, wie die Kooperation mit Bewegungen
islamistischer Provenienz. Deren Ideologie ist nicht einfach als
sekundäres, aus materiellen Bedingungen abzuleitendes Moment zu sehen,
sondern als genuines Moment dieser Bewegungen. Der Antisemitismus der Hamas ist
kein Aufschrei der Unterdrückten.
Insofern täte die Linke gut daran, Ideologen auch ernst zu nehmen.
Häufig meinen die Menschen genau das, was sie sagen. Man muss nicht immer
in schlecht verstandenem Materialismus nach dahinter liegenden Motiven suchen.
Wenn der iranische Präsident seinen Antisemitismus bei jeder Gelegenheit
laut hinausposaunt, Israel von der Landkarte löschen will und den
Holocaust leugnet, dann meint er, was er sagt.
Ein neuer progressiver Internationalismus, der das Postulat der Einheit der
Gattung Ernst nimmt, der, eingedenk der immanenten Dialektik, an den Idealen
der Aufklärung festhält und ein universelles Verständnis von
Befreiung hat, gerade dieser Internationalismus darf nicht in die alten
antiimperialistischen Muster zurückfallen. Die Solidarität mit selbst
ernannten Befreiungs- oder Widerstandsbewegungen ist nicht per se geboten. Im
Gegenteil, heute verbietet sich die Solidarisierung häufig aufgrund des
reaktionären Kerns vieler dieser Bewegungen. Hamas oder Hisbollah
können niemals Referenzpunkt emanzipatorischer Positionen sein. Ebenso
gibt es im Irak keinen Widerstand. Was es gibt, sind Terroristen, die
wahllos möglichst viele Zivilisten ermorden wollen.
Eine emanzipatorische Position muss vom Individuum ausgehen, dessen Glück
und dessen Entfaltung sie intendiert. Dies bedeutet, dass sie
antikollektivistisch sein muss. Es geht nicht um die Bewahrung von Kulturen,
sondern um den Schutz der Individuen vor barbarischen Konsequenzen derselben.
Das Ziel ist die Einrichtung gesellschaftlicher Verhältnisse, die es jedem
Einzelnen ermöglichen, aus Zwangskollektiven jeglicher Art auszubrechen,
um ohne Angst verschieden sein zu können. Das Ziel ist die Befreiung des
Geistes jedes Einzelnen im Stande der vollständig befriedigten materiellen
Bedürfnisse.
interventionen.conne-island.de - Broschüre zur Kritik des Antisemitismus und Rassismus - März 2008 -
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