Roswitha Scholz
Homo Sacer und Die Zigeuner
Antiziganismus Überlegungen zu einer wesentlichen und deshalb
vergessenen Variante des modernen Rassismus (1)
1. Einleitung:
Antiziganismus der vergessene Rassismus
Die Beschäftigung mit dem Antiziganismus, d.h. dem spezifischen Rassismus
gegenüber Sinti und Roma, ist auch innerhalb der Linken marginal. Manche
wissen gar nicht, was Antiziganismus überhaupt meint. Wolfgang
Wippermann schreibt hierzu: Mein Berufsstand, Professoren und Historiker,
haben sich mit den Sinti und Roma nicht beschäftigt, weil es als unfein
galt und immer noch gilt. Auch die kritische Intelligenz hat versagt, weil sie
die Auseinandersetzung mit diesem Aspekt deutscher Geschichte viel zu lange
versäumt hat. Das gilt auch für linke Gruppen, denen das Schicksal
der Sinti und Roma bis heute nicht sehr interessant erscheint (Wippermann,
1999, S. 106). Und es gilt leider genauso für wertkritische Kontexte. Als
wäre die moderne Konstruktion des Zigeuners als arbeitsscheu,
sinnlich, wild and free nicht gerade für eine wert- und
arbeitskritische Position von Interesse. Vergessen wird, dass die eigenen
verdrängten Bedürfnisse keineswegs bloß auf Exoten
projiziert wurden, Schwarze und Wilde irgendwo in Afrika oder in
der Karibik, sondern sie sind schon seit Jahrhunderten in nächster
Nähe, sozusagen mitten unter uns: die Zigeuner, als fester
Bestandteil der modern-westlichen Kultur selbst.
2. Moderne und Antiziganismus
Zigeuner treten in Mitteleuropa zu Beginn des 15. Jahrhundert erstmals
in Erscheinung. Ein paar Jahrzehnte lang waren sie als bettelnde und
umherziehende Pilger weithin akzeptiert. Gelegentlich wird deshalb im Hinblick
auf das 15. Jahrhundert geradezu vom Goldenen Zeitalter der
Zigeuner gesprochen. Erst an der Wende zur Neuzeit werden sie per Edikt
verfolgt und vertrieben. Der Feudalismus ist in die Krise geraten, alte
Gewissheiten und Bindungen lösen sich auf. Das Weltbild ändert sich
von Grund auf. Seuchen und Kriege erzeugen Angst und Schrecken. Wulf D. Hund
bringt die Voraussetzungen für die Herausbildung des Zigeunerstereotyps
treffend auf den Punkt. Durch ökonomische und soziale Prozesse wurden
viele freigesetzt und waren zur Vagabondage und zum Betteln verurteilt:
Das Zigeunerstereotyp erhält seine spezifische Färbung dadurch,
dass seine Entwicklung mit der Durchsetzung territorialstaatlicher
Verhältnisse und kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung in Mitteleuropa
zusammenfällt. Die vagierenden Teile der Bevölkerung gelten als
politisch unkontrollierbar und ökonomisch unproduktiv. Sie werden deshalb
mit hoheitlicher Unterdrückung und Verfolgung überzogen. Die von Karl
Marx so genannte doppelte Freiheit der Lohnarbeiter ist trotzdem wenig
attraktiv. Sie besteht darin, gleichzeitig rechtlich frei und sozial mittellos
zu sein, das heißt, keinen feudalen Abhängigkeitsverhältnissen
mehr zu unterliegen und, frei von jeglichem Besitz, gezwungen zu sein, die
Arbeitskraft zu verkaufen. Unter diesen Bedingungen reicht es, wenn denen, die
sich in die neuen Bedingungen nicht fügen dürfen, können und
wollen, zugeschrieben wird, sich nicht unter Entbehrungen und Entsagungen den
Zumutungen der Lohnarbeit zu unterwerfen, damit um ihre Lebensweise eine Aura
von Widerständigkeit entstehen kann. Soziale und romantische Dimension des
Zigeunerstereotyps sind deswegen eng verzahnt. Gleichzeitig verleiht ihnen das
ideologische Gewicht des neuzeitlichen Arbeitsverständnisses mit der
Gegenüberstellung von Arbeit und Müßiggang eine enorme Dynamik
(Hund, 2000, S. 20f.).
Dabei war das Bild des Zigeuners zunächst bis in die Ära der
Aufklärung nicht eindeutig rassistisch bestimmt. Die Auffassung war
durchaus gängig, dass Zigeuner ein zusammen gelaufenes
böses Gesindel (seien), so nicht Lust zu arbeiten hat, sondern von
Müßiggang, Stehlen, Huren, Fressen, Sauffen, Spielen u.s.w.
Profession machen will, (...) ihre fremde Erscheinung (dürfe) nicht ernst
genommen werden (...), denn ihre Sprache hätten sie verabredet, um
communicieren (zu) können', ohne dass andere Leute sie (...)
verstehen' und ihre Hautfarbe hätten sie einfach durch allerhand
Schmierereyen' künstlich erzeugt (Zedler, 1749, zit. n. Hund, 2000, S.
15).
Dieses Stereotyp zeigt dennoch schon vor dem Aufkommen eines
wissenschaftlichen Rassebegriffs in der Aufklärung Momente
rassistischer Auffassungen: Es betreibt die Herstellung und kategoriale
Fixierung einer wesensmäßigen Differenz zwischen Menschen. Dabei
bedient es sich der polarisierenden Rhetorik der Ausgrenzung, die Gemeinsamkeit
(Vaterland, Gemeinwesen) nicht zuletzt dadurch herzustellen oder zu festigen
sucht, dass sie ein negatives Bild derer erzeugt, die zu ihr nicht fähig
sein sollen oder sie gar gefährden. Bei der Stigmatisierung bedient sie
sich einer Kombination moralischer (faul) und ästhetischer (schwarz und
hässlich) Argumente und versucht so, ein angeblich kulturelles Defizit mit
einem visuellen Indikator zu verbinden. Und sie verschiebt die Kausalität
des Andersseins aus dem Bereich äußerer Ursachen (Vertreibung,
Enteignung, Not) in den des Wesens (Müßiggang als Beruf) (Hund,
1996, S. 25f.). Für eine prärassistische Variante der
Zigeunerfeindlichkeit spricht auch, dass man sie, im Gegensatz zum
müßiggängerischen Vaganten oder Bettler, ob ihrer dunkleren
Hautfarbe mit dem Teufel im Bunde wähnte und von daher ihre heidnischen,
magischen Fähigkeiten erklärte, obwohl das Gros von ihnen katholisch
war.
Anfang des 18. Jahrhunderts wurden die Zigeuner in vielen deutschen
Kleinstaaten dann für vogelfrei erklärt. Und es trat sogar eine
Verschärfung ein: Jeder männliche Zigeuner über 18 Jahre sollte
an den Galgen gebracht werden, egal, ob ihm ein Verbrechen nachgewiesen werden
konnte oder nicht. Absicht war die Ausrottung. Vorher waren die
Vogelfrei-Erklärungen von der Bevölkerung und selbst der
Polizei nicht unbedingt ernst genommen worden; nun sollten sie durch Androhung
drakonischer Strafen seitens der Obrigkeit durchgesetzt werden. Dieses
Nichternstnehmen in der Bevölkerung wird in der einschlägigen
Fachliteratur mit dem Unterhaltungsbedürfnis, mit den notwendigen
ökonomischen Funktionen, die Zigeuner in den agrarischen
Gesellschaften ausübten, und schließlich mit der Angst vor ihren
magischen Fähigkeiten spekulativ begründet.
Im 18. Jahrhundert trat Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann als
Zigeunerforscher und Zigeunerexperte auf den Plan. Vor dem
Hintergrund zeitgenössischer Umwelttheorien fordert er, dass jeder
Zigeuner ein Vaterland erkennen und gezwungen seyn (...wird), sich von seiner
Hände Arbeit zu nähren (Grellmann, 1783, zit. n. Hund, 1996, S.
26.). Zu dieser Zeit wurde der moderne Nationalstaat auf den Weg gebracht.
Dementsprechend gab es (wenngleich nur wenige) Umerziehungsprojekte, deren
bekanntestes von Maria Theresia und Joseph II ausging. Zigeuner sollten
sesshaft gemacht werden und einer regelmäßigen Beschäftigung
nachgehen; das Romanes (die Sprache von Sinti und Roma) wurde verboten,
Heiraten unter Zigeunern untersagt, die Kinder sollten den Eltern ab dem
4. Lebensjahr abgenommen und in die umliegenden Ortschaften verteilt werden.
Zigeuner sollten nun Neu-Ungarn heißen. Derartigen Projekten war
allerdings nur wenig Erfolg beschieden (Gronemeyer, 1988a, S. 66 ff.).
Von diesem Zeitpunkt an erfolgt die Ethnisierung des Stereotyps;
Zigeuner werden nun zu einer primitiven Rasse gemacht. Da sie aus Indien
kommen, wird vermutet, dass sie von den Parias abstammen. Dabei hält der
polizeiliche Sprachgebrauch, ungeachtet der (wissenschaftlichen)
Ethnisierung, bis ins 20. Jahrhundert an der Asozialität des
Zigeuners fest. Entscheidend ist dabei die Auffassung, dass
Zigeuner ohnehin nicht mehr reinrassig seien. Zigeuner
seien deshalb alle Landfahrer ohne festen Wohnsitz, die einer gauklerischen
oder schaustellerischen Tätigkeit nachgehen bzw. überhaupt ohne Beruf
sind so sinngemäß eine Denkschrift über die
Bekämpfung des Zigeunerunwesens von 1911 (vgl. Hund, 1996, S. 32).
Dabei gab es wissenschaftliche Annahmen wie die von Robert Ritter, der
sich im Nationalsozialismus als Zigeunerexperte hervorgetan hat. Dessen
Ausgangspunkt lässt sich nach Hund in drei Thesen zusammenfassen:
Zigeuner seien fremdrassig; mehrheitlich handele es sich bei ihnen
allerdings um Mischlinge aus Verbindungen von Zigeunern mit Angehörigen
ihrer Wirtsvölker; die Zigeunermischlinge seien überwiegend asozial.
Hervorgegangen aus der Paarung von Zigeunern und erbminderrassigen Deutschen
(bestenfalls mit Musikanten, Schaustellern und Hilfsarbeitern'), zeigten
sich die Mischlingszigeuner als arbeitsscheues Lumpenproletariat, das alle
Zigeunereigenschaften' bewahre (Hund, 1996, S.33). Herr Ritter wird uns
in dieser Untersuchung noch öfter begegnen.
Gemutmaßt wurde, dass deutsche Asoziale letztlich Abkömmlinge
primitiver Stämme des frühen Mittelalters seien. Derartige
Vorstellungen gipfelten in der Annahme eines Zigeuner- bzw.
Asozialen-Gens. Wurden die Zigeuner im Konstitutionsprozess der
Moderne anfangs noch tendenziell mit inkriminierten Vaganten und Bettlern
gleichgesetzt, so wurden umgekehrt im Nationalsozialismus Vaganten und
sogenannte Asoziale mit der fremden Rasse der Zigeuner
identifiziert, wie Hund (1996, S. 33 ff.) bemerkt.
Gleichzeitig enthält das Zigeunerbild, wie schon angedeutet, romantische
Elemente. In diesem Bild kommt auch das Unbehagen in der (modernen)
Kultur zum Ausdruck. Den Zigeunern werden musikalische Fluchten
zugeschrieben. Insbesondere rühmt man ihre musikalische Anlage (...)
Sie spielen die Violine und die Maultrommel und blasen Waldhorn, Flöte und
Oboe. Ihre Tanzmusik ist froh und gefühlvoll (Brockhaus
Real-Ezyklopädie 1848, zit. n. Hund, 1996, S. 13). Musikalische
Tätigkeit wird dabei naturalisiert; sie ist nicht Produkt von Leistung und
Disziplin, sondern der müßiggängerische Zigeuner hat`s
im Blut.
Hund bringt diesen Rassismus, den er romantischen Rassismus nennt, in
seinem projektiven Charakter (der mit entsprechenden Stereotypen einhergeht)
folgendermaßen auf den Punkt: Freiheit, die sich nicht fügen
will, erscheint als Eigenschaft einer fremden Rasse. Bürgerliche Freiheit
gibt es nur im Rahmen von äußerer Ordnung und innerer
Selbstbeherrschung. Ungehemmte Freiheit führt zum Untergang. Um sie zu
charakterisieren, schreibt Merimee über Carmens Volk: Pour les gens
de sa race, la liberté est tout'. Gemeint ist, wie Carmen selbst
erläutert, die Freiheit, nicht kommandiert zu werden, und zu tun, was
einem gefällt, keine bürgerliche Tugend, sondern wilde
Zügellosigkeit (Hund, 1996, S, S. 16).
3. Zur Geschichte des Antiziganismus in Deutschland
3.1 Kaiserreich und Weimarer Republik
Seit Beginn der Neuzeit waren Vertreibungen und Vogelfrei-Erklärungen in
mehreren europäischen Ländern immer wieder an der Tagesordnung, wobei
die Verfolgung von Sinti und Roma schließlich in der massenhaften
Ermordung im Nationalsozialismus gipfelte (vgl. auch Haupt, 2006, S. 115 ff.).
Im folgenden sollen nun einige Stationen der Verfolgung der Sinti und Roma,
ausgehend von Kaiserreich und Weimarer Republik, als Vorgeschichte ihrer
Vernichtung im Nationalsozialismus (wie auch ihrer Diskriminierung nach 1945)
nachgezeichnet werden.
War die Verfolgung der Sinti und Roma bis zur Aufklärung durchaus
widersprüchlich, so wurde sie im 19. Jhd. systematisch im Kontext der
Bestrebungen zur Reichsgründung betrieben: Sinti und (...) Roma sind
schon im Kaiserreich aus rassistischen Gründen diskriminiert worden
(Wippermann). Repräsentativ ist dabei die Äußerung des
Fürstlich Reuß-Plauenschen Criminalraths Richard Liebich, der
postulierte, dass alle Sinti und Roma nur, weil sie Zigeuner'
waren, Personen minderen Rechts seien, weshalb eine Einzelfallprüfung
unnötig sei (...) Wenn der Richter sonst allenthalben zu individualisieren
hat, d.h. das zu behandelnde Subject erst in seiner Eigenthümlichkeit
erforschen und kennen lernen, und danach den Gang seines Verfahrens bestimmen
muss, so darf der eingeweihte, mit dem Wesen der Zigeuner bekannte Inquirent
bei diesen ohne Gefahr generalisieren und keinen Fehltritt zu thun besorgen,
wenn er alle mit dem gleichen Maße misst, in gleicher Weise behandelt;
denn ein echter, wahrer Zigeuner ist der Typus aller anderen (Liebich zit. n.
Wippermann, 1997, S. 113f.).
Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden über Sinti und Roma
systematisch Akten angelegt. Man unterwarf sie diversen Einschränkungen,
z. B. wurden Wandererwerbsscheine verweigert und ihre Kinder in Erziehungsheime
gebracht (wobei die Kommunen manchmal illegal derartige Scheine ausstellten,
damit die Zigeuner in andere Gegenden weiterzogen). Das Reisen in
Horden, d.h. in familienähnlichen Zusammenschlüssen, wurde
verboten. Ausländische Zigeuner sollten abgeschoben,
inländische möglichst restriktiv behandelt werden.
Schließlich wurde ihre zigeunerische Eigenart' sogar in ihren
Pässen und Ausweispapieren vermerkt. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts
gingen die Behörden (...) dazu über, möglichst alle in
Deutschland lebenden Sinti und Roma zu erfassen, wobei selbst die damals noch
sehr teuren Lichtbilder angefertigt und Fingerabdrücke abgenommen wurden
(...) Sie standen unter einem Sonderrecht und waren Staatsbürger minderen
Rechts. Dies war bereits im Kaiserreich der Fall und änderte sich auch in
der Weimarer Republik nicht wesentlich (Wippermann, 1997, S. 114f.).
Zum Teil kam es sogar zu Verschärfungen. 1926 trat das bayerische
Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitscheuen
in Kraft. Danach konnte jeder Sinto und Rom, der den Nachweis einer
geregelten Arbeit nicht zu erbringen` vermochte, aus Gründen der
öffentlichen Sicherheit bis zur Dauer von zwei Jahren in einer
Arbeitsanstalt untergebracht werden` (...). In diesen Arbeitsanstalten`
oder Arbeitshäusern` unterlagen die Sinti und Roma einem
Arbeitszwang und einer äußerst rigiden Hausordnung`, die die
Vorlage für die Ordnungen` in den späteren
nationalsozialistischen Konzentrationslagern bilden sollte (Wippermann, 1997,
S. 115). Im NS entschied dann die Rassenkunde darüber, wer Zigeuner
ist.
3.2. Porrajmos: Die Massenvernichtung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus
In den Geschichtswissenschaften ist ein Streit darüber entbrannt,
inwieweit Shoa und Porrajmos (der Terminus kommt aus dem Romanes und bedeutet
soviel wie das Verschlungene. Er bezeichnet die Massenvernichtung der
Sinti und Roma im Nationalsozialismus) miteinander vergleichbar sind oder ob
auf der Einzigartigkeit der Shoa beharrt werden muss. Darauf kann hier nicht
eingegangen werden; diese Problematik muss einer weiteren Untersuchung
vorbehalten werden. Hier soll nur soviel gesagt werden, dass der absolute
Eliminierungswille (auch in Form der ständigen Vertreibung) in Bezug auf
Sinti und Roma, anders als bei den Juden, keineswegs erst im
Nationalsozialismus, sondern schon früher entstand. Fakt ist jedoch, dass
die Verfolgung und Ermordung nicht nur der Juden, sondern auch der Sinti und
Roma im Kontext eines umfassenden Programms der Rassenzüchtung und
Rassenvernichtung im Nationalsozialismus zu sehen ist, wie Wolfgang Wippermann
konstatiert (auf dessen historisch-empirische Ausführungen ich im
folgenden vor allem rekurriere, vgl. Wippermann, 2005). Auszugehen ist davon,
dass die antiziganistische Eliminierungswut im Nationalsozialismus einen
Höhepunkt erreichte.
Dabei sollte gleichzeitig für das deutsche Volk Lebensraum im Osten
gewonnen und der gesunde Volkskörper von fremdrassigen,
erbkranken und asozialen Elementen gereinigt werden.
Asozialen der Dominanzkultur (Birgit Rommelspacher) wurde jedoch
prinzipiell noch ein Besserungsvermögen zugestanden (vgl.
Schatz/Woeldicke, 2001, S. 101), auch wenn sie ebenfalls unter dem Verdacht
einer Erbschädigung standen. Wissenschaft und Alltagswissen
entsprachen sich in vielerlei Hinsicht.
Der prominenteste Zigeunerforscher war der bereits erwähnte Robert
Ritter. Ritter wurde 1936 Direktor der neugeschaffenen Rassenhygienischen
und erbbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamts. Obwohl sie
manchmal nicht ausdrücklich erwähnt sind, wurden die ersten
Rassegesetze der Nationalsozialisten auf Sinti und Roma angewandt. So wurden
sie nach einem Gesetz von 1933 zwangssterilisiert und viele von ihnen als
schwachsinnig bzw. sozial schwachsinnig eingestuft. Auch wendete
man die Nürnberger Rassegesetze, die sich zunächst nicht auf Sinti
und Roma bezogen, sondern auf die Juden, ebenfalls auf diese
Bevölkerungsgruppe an. Inhalt war das Verbot der Eheschließung
von deutschblütigen Personen mit Zigeunern, Negern oder ihren Bastarden
(Runderlass des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 26.
November 1935, zit. n. Wippermann, 2005, S. 32). Seit 1935 ging man dazu
über, Sinti und Roma in sogenannten Zigeunerlagern zu internieren, was
zunächst von den lokalen Behörden ausging (mit Wissen und Billigung
des Chefs der deutschen Polizei Heinrich Himmler), wobei wie schon
erwähnt besonders die Mischlingszigeuner als geborene Asoziale und
Verbrecher galten. Himmler war nun nicht nur für die Vernichtung der
Juden, sondern auch für die der Zigeuner zuständig.
1938 ordnete er die endgültige Lösung der Zigeunerfrage (...)
aus dem Wesen der Rasse heraus an. Grundlage waren dabei die Untersuchungen
der Forschungsstelle Ritters, die viele der 30 000 Sinti und Roma mit Hilfe
staatlicher Stellen und der Kirchen in Vollzigeuner,
Zigeuner-Mischlinge mit vorwiegend zigeunerischem Blutsanteil,
Zigeuner-Mischlinge mit gleichem zigeunerischen und deutschen
Blutsanteil und Zigeuner-Mischlinge mit vorwiegend deutschem
Blutsanteil ausdifferenziert hatte (vgl. Wippermann, 2005, S. 34). Dabei
galten noch Personen mit einem Urgroßelternteil, der als Zigeuner
firmierte, als Zigeunermischlinge. Nichterfasste Sinti und Roma hatten
dagegen (anders als Juden, die u.a. über Mitgliederlisten der
jüdischen Gemeinden ausfindig gemacht werden konnten) noch die Chance,
sich als Angehörige der mit Deutschland befreundeten Länder (etwa als
Italiener) zu tarnen, was manche auch taten (Wippermann, 2005, S. 36).
Mit dem systematischen Mord an Juden, Sinti und Roma wurde nach dem Angriff auf
Polen 1939 begonnen. Alle Sinti und Roma sollten nach Polen deportiert werden.
Diese Aktion wurde 1940 zunächst gestoppt, vor allem weil einige
Zigeunerforscher (u.a. auch Ritter) und Zigeunerpolizisten sich gegen
die Deportation ausgesprochen hatten mit dem Argument, dass die Sinti und Roma
fliehen und nach Deutschland zurückkehren würden. Im Oktober
begann dann die Massendeportation der deutschen Juden nach Osten. (...) Im
November 1941 wurden ca. 5000 Sinti und Roma aus dem Burgenland, Ungarn,
Rumänien sowie auch aus Deutschland in das Ghetto Lodz (...) deportiert.
Dies geschah gegen den heftigsten Protest der für das Ghetto und die Stadt
Lodz verantwortlichen deutschen Stellen, die dabei nicht nur alle
möglichen antiziganistischen Vorurteile anführten, sondern selbst
hohen SS-Offizieren, die auf Aufnahme von weiteren Zigeunern'
drängten, vorwarfen, sie hätten von den Zigeunern' gewisse
Roßtäuschermanieren` übernommen (...). Interessant sind
diese Schreiben deshalb, weil sie zeigen, dass diese SS-Männer die
Zigeuner' noch mehr hassten als die Juden.
Ähnlich war es auch im Osten, wo unmittelbar nach dem Überfall auf
die Sowjetunion neben Juden, politischen Kommissaren der Roten Armee,
Geisteskranken und sog. Asiatisch-Minderwertigen' auch Sinti und Roma in
die Vernichtungsaktionen einbezogen wurden, ohne dass es dazu eines
ausdrücklichen Befehls bedurft hätte. Erst am 4. Dezember 1941
ordnete der für das Baltikum und Weißrussland zuständige
Reichskommissar Hinrich Lohse an, dass die Zigeuner' in der Behandlung
den Juden gleichgestellt werden' sollten (Wippermann, 2005, S. 41).
Entscheidungen wurden dabei den Kommandeuren der Sicherheitspolizei und des
Sicherheitsdienstes überlassen, mit dem Ergebnis, dass zahlreiche Sinti
und Roma sofort erschossen bzw. in Vernichtungslager gebracht wurden. In den
okkupierten Gebieten der Sowjetunion wurden Sinti und Roma wie Juden von der
Wehrmacht, der Polizei und den Angehörigen von Einsatzgruppen ermordet.
Zigeuner wurden dabei nach wie vor verdächtigt, Agenten zu sein.
Juden galten als wesentlich an der Partisanenkriegführung beteiligt,
während die Zigeuner für besondere Grausamkeiten und den
Nachrichtendienst (des Feindes) verantwortlich (seien) (Turner zit. n.
Wippermann, 2005, S. 43). Wippermann kommentiert: Diese Quellenzeugnisse
deuten darauf hin, dass die deutschen Täter keineswegs nur Juden hassten,
wie dies von Daniel Jonah Goldhagen behauptet worden ist. Hitlers willige
Vollstrecker' zeigten beim Massenmord an den Sinti und Roma einen noch
größeren fanatischen Eifer, weil die antiziganistischen Ideologien
und Stereotypen offensichtlich noch tiefer verwurzelt waren als die
antisemitischen. Doch ist dies eine Vermutung. Keine Vermutung, sondern
einwandfrei bewiesene Tatsache ist jedoch, dass Sinti und Roma wie Juden in den
Vernichtungslagern vergast und von Angehörigen der Einsatzgruppen, der
Polizeibataillone und der Wehrmacht erschossen worden sind. In dieser Hinsicht
gab es, wie der Führer der Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf, 1945 vor den
alliierten Vernehmern freimütig gestand, kein(en) Unterschied
zwischen Zigeunern und den Juden' (Wippermann, 2005, S. 44; vgl. dazu auch aus
wert-abspaltungskritischer Perspektive die Ausführungen zur Bedeutung von
Goldhagen in der Holocaustdebatte: Dornis, 2005).
Im Juli 1944 fand die letzte Vergasung statt. Sinti und Roma wurden auch in
Holland, Belgien, Frankreich, Kroatien, Rumänien, der Slowakei usw.
ermordet. Skurrilerweise hatte Himmler zunächst den Plan,
reinrassige Zigeuner am Neusiedlersee in einem Reservat anzusiedeln, wo
sie, ihre Sitten und Gebräuche behaltend, einer
artgemäßen Arbeit nachgehen sollten. Die reinrassigen
Zigeuner als (wenngleich minderwertige) Arier hätten einen
wichtigen Beitrag zum germanischen Brauchtum zu überliefern nicht
zuletzt hinsichtlich ihrer okkulten und magischen Fähigkeiten. Dieser Plan
wurde von Bormann und Hitler jedoch verhindert (vgl. Wippermann, 2005, S. 45 f.).
Es braucht nicht eigens erwähnt zu werden, dass arbeitsscheu ein
wichtiges Attribut von Asozialität im Nationalsozialismus und ein
zentraler Vorwurf gegenüber Sinti und Roma (neben den Juden) war. So
schreibt Ritter: Inmitten hochentwickelter Völker mit differenziert
organisierten Gemeinwesen lebten demnach fremdartige Horden, die im
Gegensatz zu der bodenständigen Bevölkerung nomadenhaft umherziehen
und sich nicht durch Arbeit ernähren' würden (...) Sie eignen sich
an, wessen sie habhaft werden können (...) Sie begnügen sich mit
einem Platz an der Sonne, sie spüren keine Not, weshalb sie Arbeit auch
nicht als not-wendig empfinden (...) Alle Bemühungen, sie ein anderes
artfremdes Leben zu lehren, schlagen fehl, da alle fremden
Darlegungen sie nicht ansprechen, sie nicht zum Mitschwingen bringen
können, d.h. ihnen im Grunde unverständlich sind (Ritter, zit. n.
Schmidt, 1996, S. 140).
3.3 Repressive Behandlung der Sinti und Roma nach 45, (fehlende) Wiedergutmachung und die Bürgerrechtsbewegung
Sinti und Roma wurden in der Nachkriegszeit häufig in heruntergekommenen
Notunterkünften untergebracht bzw. belassen und am Stadtrand angesiedelt.
Ein Entkommen aus diesen Lebensbedingungen war wenn überhaupt
nur im Einzelfall oder unter Verleugnung der Identität
möglich (Reemtsma, 1996, S. 126). Traditionelle Vorurteile lebten trotz
Auschwitz fort, weil Zigeuner-Experten und -Gutachter aus dem NS in die
Amtsstuben der Länder und Kommunen übernommen wurden und mit ihnen
ihre Einschätzungen wie u.a. das Schmarotzerklischee. Sie alle
nahmen nicht nur Bestände aus dem während der NS-Zeit angelegten
Aktenmaterial über Sinti und Roma in ihre Dienststellen mit, sondern
führten die polizeiliche (Sonder- !)Erfassung der überlebenden Sinti
und Roma weiter (Reemtsma, 1996, S. 126).
Eigentlich hätte man gemäß den Beschlüssen der Alliierten
die Gesetze aus der Weimarer Republik und NS-Zeit aufgeben müssen; dies
umging man in den 50er Jahren, indem man etwa die Bayerische
Landfahrerordnung erließ, die bis in die 70er Jahre gültig war und
de facto mit den entsprechenden Inhalten auf Sinti und Roma abzielte, auch wenn
es nur noch wenige Sinti gab, die ständig reisten. Dabei knüpfte man
an das oben erwähnte Bayerische Gesetz zur Bekämpfung von
Zigeunern, Landfahrern und Asozialen von 1926 an. Wer ständig reisen
wollte, brauchte eine Sondergenehmigung. Bis 1957 galt in Hessen das aus dem
Jahre 1929 stammende Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens.
Andere Zigeuner-Verfügungen u.a. aus dem Anfang des 20.
Jahrhunderts waren sogar bis 1976 gültig. Doch selbst wenn derartige
Gesetze und Verfügungen abgeschafft waren, wurden Sondermaßnahmen
weiterhin durchgeführt. In verschiedenen Städten gab es
Strategiepapiere, um den Aufenthalt von Zigeunern auf jeden Fall zu
verhindern. In polizeilichen Lehrbüchern hielten sich rassenhygienische
Einschätzungen aus der NS-Zeit. Zigeuner galten nach wie vor als
arbeitsscheu und vom Wandertrieb beseelt.
Generell herrschte bei der Polizei eine Haltung des prinzipiellen
Verdachts', derzufolge alle Sinti und Roma als potentielle Straftäter
galten. In der polizeilichen Verwaltung implizierte dies die möglichst
umfangreiche Erfassung der Sinti und Roma bis hin zur Registrierung des
ZN-Zigeunernamens' oder der KZ-Häftlingsnummer. Bis Ende der
siebziger Jahre wurde die Landfahrerkontrollmeldung' über die
Landeskriminalämter an die Landfahrerzentrale` in München
weitergegeben, die über eine bundesweite Zigeunerkartei'
verfügte. Zuständig vor Ort für die Erfassung der Daten und
weitere Maßnahmen war ein Zigeunersachbearbeiter', zuständig
bei den Landeskriminalämtern war die Landfahrerstelle'. Zur
Informationsverteilung wurden Merkblätter zur Kontrolle der
Landfahrer' und Anweisungen der LKAs in Landes- und
Bundesskriminalblättern veröffentlicht. Nach 1981 kam es unter dem
Druck öffentlicher Proteste gegen diese Sondererfassung zur Änderung
des Sprachgebrauchs. Aus Landfahrern` und Zigeunern' wurden die
HWAO' (häufig wechselnder Aufenthaltsort)- und TWE'
(Tageswohnungseinbruch)-Täterkreise (...) Statt an die
Landfahrerzentrale' in München wurden die Daten nun über LKAs
an das Bundeskriminalamt weitergeleitet. Informationen wurden über
Fernschreiben, Anweisungen und Sonderausgaben des Bundeskriminalblattes
distribuiert (Reemtsma, 1996, S. 128 f.). Illegale erkennungsdienstliche
Behandlungen gab es auch in den 90er Jahren, um deutsche Sinti und
(ausländische) Roma polizeilich zu überwachen und zu kontrollieren
(vgl. Reemtsma, 1996, S. 130).
Lange Zeit wurden die nationalsozialistischen Verbrechen an den Sinti und Roma
nicht anerkannt. Zigeunerwissenschaftler wie Robert Ritter und seine
Assistentin Eva Justin wurden nach 1945 entweder nicht verfolgt oder
freigesprochen und arbeiteten in einschlägigen Stellen ungehindert weiter.
NS-Material wurde bei anthropologischen Untersuchungen weiter verwendet.
Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang Hermann Arnold, der seine
Forschungen im Sinne Ritters weiter betrieb und zeitweilig, bis Ende der
siebziger Jahre, mit seinem biologistischen Ansatz sogar Berater der
Bundesregierung und der Caritas war. Sinti und Roma galten weiterhin als
infantil und dem magischen Denken verhaftet. Die Gutachter der
Wiedergutmachungs-Anträge der Verfolgten des Naziregimes waren die
ehemaligen Mitarbeiter der Zigeunerleitstelle beim
Reichssicherheitshauptamt und der Rassenhygienischen Forschungsstelle
beim Reichsgesundheitsamt. Ergebnis war u.a. ein Runderlass des
Baden-Württembergischen Innenministers von 1950: Die Prüfung
der Wiedergutmachungsberechtigung der Zigeuner und Zigeunermischlinge (sic!)
nach den Vorschriften des Entschädigungsgesetzes hat zu dem Ergebnis
geführt, dass der genannte Personenkreis überwiegend nicht aus
rassischen Gründen, sondern wegen seiner asozialen und kriminellen Haltung
verfolgt und inhaftiert worden ist. Aus diesen Gründen ordnen wir hiermit
an, dass Wiedergutmachungsanträge von Zigeunern und Zigeunermischlingen
zunächst dem Landesamt für Kriminalerkennungsdienst in Stuttgart zur
Überprüfung zugeleitet werden (zit. n. Reemtsma, 1996, S. 134).
1963 wurde ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 1956 aufgehoben, wonach Sinti
und Roma erst seit 1943 und nicht schon seit 1938 rassistisch verfolgt worden
seien. Zu diesem Zeitpunkt waren viele der Opfer schon gestorben; viele haben
von dieser Rechtsprechung nie erfahren. Bereits 1969 lief die Antragsfrist ab.
1981 wurden allerdings neue Richtlinien zur Abgeltung von Härte in
Einzelfällen für Verfolgte nichtjüdischer Herkunft erlassen.
5.000 DM war dabei die Höchstsumme, bzw. es wurde eine niedrige Rente
gewährt. Nicht zuletzt aufgrund von öffentlichen Kampagnen und
Gerichtsverfahren erhielt letztlich die Mehrheit der Sinti und Roma in
Deutschland eine Entschädigung, wenngleich eine völlig unzureichende
und schäbige (vgl. Reemtsma, 1996, S. 135). Dabei empfanden viele
den Umgang mit ihrem Schicksal durch deutsche Behörden als zweite
Verfolgung' (Reemtsma, 1996, S. 135). Entschädigung bekamen nur die
deutschen Sinti und Roma; osteuropäische Roma gingen leer aus (es sei
denn, sie waren Opfer medizinischer Versuche oder Zwangsarbeiter in
Deutschland). Dabei ist zu sagen, dass manchen Sinti und Roma die deutsche
Staatsbürgerschaft nach 1945 nicht zurückgegeben wurde, die ihnen von
den Nazis vor der Deportation entzogen worden war (vgl. Wippermann, 2005, S.
73).
Insgesamt kann man sagen, dass sich die behördliche Behandlung der Sinti
und Roma erst seit den 70er Jahren ansatzweise verbesserte (vgl. Reemtsma,
1996, S. 135). Keine Minderheit wurde in der Bundesrepublik von der
Polizei und den Medien so hartnäckig kriminalisiert und unter
Pauschalverdacht gestellt wie die Sinti und Roma, schreibt Michail Krausnick
(1996, S. 147). Als günstig für das Anliegen der Sinti und Roma
erwies sich das vergleichsweise liberale Nach-68er-Klima. 1971 gründete
Vizenz Rose das Zentralkomitee der Sinti Westdeutschlands. Vereinzelt
hatte es auch schon vorher Vorstöße zur Interessenorganisation
gegeben (vgl. Wippermann, 2005, S. 76). Zu entscheidenden Veränderungen
kam es jedoch Ende der 70er Jahre. Mit Protestaktionen und Demonstrationen
wurde versucht, den Massenmord und die fortgesetzte Diskriminierung ins
öffentliche Bewusstsein zu heben.
Soviel zur Geschichte des Antiziganismus in Deutschland. Zum Schluss sei noch
eine Warnung ausgesprochen: Auch wenn es zutrifft, dass die
Grundstrukturen der Exklusion in allen europäischen Ländern
ähnlich sind (Haupt, 2005, S. 111), so kann doch davon ausgegangen werden,
dass es auch erhebliche Unterschiede gibt. In den Niederlanden etwa gab es nie
Zigeunersondergesetze, und eine gewisse Wohnwagenkultur der
Niederländer samt dazugehöriger Infrastruktur brachte es mit sich,
dass sich die Diskriminierung der Zigeuner in Grenzen hielt (vgl.
Völklein, 1981, S. 102 f.). In diesem Zusammenhang ist auch interessant,
dass das Stereotyp des kriminellen Zigeuners in Großbritannien
nicht durchgängig zu existieren scheint, sondern
gewohnheitsmäßiges kriminelles Verhalten dem Landfahrer der
Dominanzkultur zugeschrieben wird (vgl. Völklein, 1981, S. 101).
Von 1830 bis 1870 waren die Romanicals in England vergleichsweise
integriert und verdienten gut im Handel mit den Bauern, bis Kornimporte aus den
USA dem ein Ende setzten. Auch wird um 1800 von den Roma auf der Krim
berichtet, dass sie durch ihre Tätigkeiten als Astrologen, Schmiede und
Musiker teilweise sehr wohlhabend waren (vgl. Haupt, 2006, S. 294).
Bemerkenswert ist auch, dass im Gegensatz zum Nachkriegsdeutschland in
Frankreich Ende der 40er Jahre soziale Missstände für die spezifische
Situation der Zigeuner verantwortlich gemacht wurden und nicht ein
böswilliger Charakter (was eine entsprechende Sozialpolitik zur
Folge hatte; vgl. Margalit, 2001, S. 100).
4. Antisemitismus und Antiziganismus
Wolfgang Wippermann kommt das Verdienst zu, erstmals Antisemitismus und
Antiziganismus verglichen zu haben.Wippermann bleibt hierbei als Historiker
verständlicherweise auf der historisch-empirischen Ebene. Uns
interessieren die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Antisemitismus und
Antiziganismus jedoch vor allem im Hinblick auf eine gesellschaftskritische
Wert-Abspaltungstheorie. Hierzu gibt Franz Maciejewski einige wichtige
Hinweise, wenn er auf den psychologischen Kern des Antiziganismus zu
sprechen kommt: In der Konfrontation mit einer überwunden geglaubten
Entwicklungsstufe der eigenen Zivilisation blitzt eine magisch-archaische Zeit
auf; primitive Überzeugungen werden bestätigt, regressive
Wünsche und mythische Angst wiederbelebt. Die Schuld der Sinti und Roma
wenn man denn so unvorsichtig sein will, davon zu reden besteht
darin, das Verdrängte (...) wachgerufen, die Gespenster hervorgelockt zu
haben. Es spukt im eigenen Seelenhaus. Als Überbringer dieser schlimmen
Botschaft werden die Zigeuner totgeschlagen. Sie zu beseitigen ist der Versuch,
der verhassten übermächtigen Lockung, in die Natur
zurückzufallen', Herr zu werden (Maciejewski, 1996, S. 20).
Wie gezeigt, stehen die Zigeuner dabei für Ungebundenheit und
Arbeitsverweigerung. Aus einer arbeitskritischen Perspektive stellen
Schatz/Woeldike dabei den Vergleich zum Antisemitismus an: Der
Antiziganismus (bildet) eine Komplementierung der antisemitischen
Projektion. Während die Juden' als die Exponenten und Urheber der
gesellschaftlichen Modernisierung, vor allem jedoch als unverschämte
Nutznießer entsprechender Emanzipationspotenziale galten, fungierten die
so genannten Zigeuner als Repräsentanten der untergegangenen Welt
der Vormoderne, als das eigene Alte der europäischen Kultur'. Der
Hass auf die Nicht-Arbeit besteht also sowohl aus dem Hass gegenüber einer
möglichen Aufhebung der Arbeit auf der Basis gesellschaftlichen
Fortschritts, dem Lohn der Arbeit', und aus dem Hass auf die Erinnerung
an ein Leben ohne die Friktionen der Arbeitsgesellschaft (Schatz/Woeldike,
2001, S. 123).
Während die Zigeuner als minderwertig betrachtet werden, sind die
Juden in der antisemitischen Vorstellung vornehmlich mit Macht und Herrschaft
im Kapitalismus verkoppelt. Gemeinsam ist jedoch jener Mechanismus,
welcher durch die Abgrenzung und die physische Verfolgung der
Nichtidentischen` eine vermeintliche psychische Entlastung
ermöglicht und andererseits verdrängte Wünsche nach außen
projizieren lässt. Dieser Mechanismus lässt sich als negativ
gewendete Wunschvorstellung bezeichnen, negativ im Sinne eines sich im Hass auf
die anderen' manifestierenden Selbsthasses (...). Was man selbst nicht
haben kann, soll auch kein anderer besitzen. Der Gedanke an Glück'
muss ausgetrieben werden (Schatz/Woeldike, a.a.O.). Dabei ist hervorzuheben,
dass es sich beim Antiziganismus im Gegensatz zum Antisemitismus um einen
romantischen Rassismus handelt, verquickt mit Vorstellungen von sozialem
Elend und von Verfolgung, wobei gerade den einfachen Leuten signalisiert
werden soll: Ihr seht schon, wohin ihr kommt, wenn ihr dem nachgebt. Es droht
der Fall in die Asozialiät, die Nichtintegration, den Ausschluss.
In gewisser Weise könnte man vielleicht sagen: Der Jude ist der
Zigeuner der Oberschicht, und der Zigeuner ist der Jude
der Unterschicht.
Es wäre sogar zu erwägen, ob nicht der Zigeuner noch viel mehr
den Glücksvorstellungen der Massen zumindest bis zum Fordismus
entsprochen hat als der Jude, gerade wenn man bedenkt, dass in
der fordistischen Phase der Großteil der Bevölkerung
tatsächlich noch aus Arbeitern und Bauern bestand. Das gefühlvolle
Volkslied, der Rummelplatz, der Zirkus, unbewusst auch das Auf-und
Davon-Gehen, die mit dem Zigeunerstereotyp in Verbindung gebracht werden,
waren gewiss den Glücksempfindungen der einfachen Leute näher
als die als reich und mächtig imaginierten Juden, die auch für eine
fremde bürgerliche Kultur standen. Auch wenn sich der gemeinsame Nenner im
Vorwurf des arbeitsscheuen Parasiten finden lässt, ging von den
Zigeunern primär womöglich der verführerische Klang
der Sirenen aus, je mehr Selbstdisziplin auch von den Subalternen der
Dominanzkultur gefordert wurde (vgl. Horkheimer/Adorno, 1973, S. 57).
Im Gegensatz zu anderen Wilden (etwa Indianern oder
Südseeinsulanern), die ebenfalls mit Natur gleichgesetzt wurden,
ist der Zigeuner aber Bestandteil der eigenen Kultur, Bestandteil der
Gesellschaft, in der man selbst lebt. Die Zigeuner sind von Beginn der
Moderne an durch und durch Bestandteil des Westens selbst. Der Zigeuner
ist dabei im Gegensatz zu anderen Rassismustypen (dazu im folgenden mehr) der
Homo sacer par excellence im Binnenraum der modernen Gesellschaft selbst.
5. Homo sacer und die Zigeuner
In den letzten Jahren hat Giorgio Agambens Buch Homo sacer oder das
nackte Leben Furore gemacht (Agamben, 2002). Dieses Buch scheint mir gerade im
Hinblick auf die Bedeutung des Antiziganismus im Kapitalismus aufschlussreich
zu sein, freilich ohne dass Agamben selbst diesen Zusammenhang auch nur
annähernd gebührend benennt (er erwähnt den Antiziganismus der
Nationalsozialisten nur einmal kurz nebenbei). In Anlehnung an Carl Schmitt,
Hannah Arendt und Walter Benjamin geht Agamben von der Grundannahme aus, dass
der Ausnahmezustand den Nomos der Moderne bildet, die geheime Basis, auf
der Recht und Politik fußen. In der Ausnahme wird das, was
draußen ist, nicht einfach mittels eines Verbots oder einer Internierung
eingeschlossen, sondern indem die Gültigkeit der Ordnung aufgehoben wird,
das heißt indem zugelassen wird, dass sich die Ordnung von der Ausnahme
zurückzieht, sie verlässt. Es ist nicht die Ausnahme, die sich der
Regel entzieht, es ist die Regel, die, indem sie sich aufhebt, der Ausnahme
stattgibt; und die Regel setzt sich als Regel, indem sie mit der Ausnahme in
Beziehung bleibt. Die besondere Kraft des Gesetzes rührt von dieser
Fähigkeit her, mit einem Außen in Beziehung zu bleiben (Agamben,
2002, S. 28).
Dabei nimmt für Agamben die Souveränität die Form einer
Entscheidung über die Ausnahme (und das heißt: über das Leben)
an, was die eigene Aufhebung in sich einschließt. Das Individuum
wird hierbei zum bloßen Körper, zum nackten Leben
degradiert. Eine entscheidende Rolle spielt hier die Figur des Homo
sacer, die seinem Buch auch den Namen gab und die aus dem römischen Recht
stammt. Der Homo sacer ist ein Vogelfreier, der aus dem Recht herausfällt
(aber gerade deswegen in es eingeschlossen ist) und ungestraft getötet,
aber nicht geopfert werden kann.
Nach Agamben ist das Lager, nicht das Gefängnis der Ort, in dem der
Ausnahmezustand sich letztlich realisiert. Es ist das biopolitische (...)
Paradigma der Moderne (Agamben, 2002, S. 127 ff.), der Ort, der sich
öffnet, wenn der Ausnahmefall zur Regel zu werden beginnt (Agamben, 2002,
S. 177). Besonders in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus (aber
nicht nur hier) drückt sich dies aus. Juden, Behinderte, Geisteskranke,
lebensunwertes Leben werden hier auf das nackte Leben reduziert,
ermordet und zu medizinischen Versuchszwecken missbraucht. Dabei sieht Agamben
gerade heute den Ausnahmezustand in einem krisenhaften Verfallsprozess wieder
hervortreten, so etwa in der Zersetzung staatlicher Organisation im Ostblock,
die zur Errichtung von Lagern und zu illegitimen Übergriffen (wie
z.B. Massenvergewaltigungen) führt; zu Erscheinungen, die Agambens
Auffassung zufolge gerade die Voraussetzung des Rechts sind ein
Menetekel für die ganze Welt. Potentiell sind nach Agamben somit alle
Menschen homines sacri (siehe etwa Agamben, 2002, S. 124). Damit
allerdings, wie Deuber-Mankowsky Agamben zu Recht kritisiert, sind wir
alle potentielle Jüdinnen und Juden, die der Autor als Repräsentanten
schlechthin und beinah als lebendiges Symbol des Volkes`, jenes
nackten Lebens` bezeichnet, das die Moderne zwangsläufig in
einem Innern erzeugt, aber dessen Präsenz sie auf keine Weise mehr
ertragen` könne (Deuber-Mankowsky, 2002, S. 107). Es zeige sich hier
deutlich, wie das Denken im Ausnahmefall funktioniert und wohin es
führt. So verspricht die Orientierung am Extrem höchste Konkretion
und führt doch, wie die pauschalierende Verallgemeinerung, wir seien
potentiell alle homines sacri, deutlich macht, in die reine und leere
Abstraktion. Als solche ist sie nicht nur ein Affront gegenüber den
konkreten Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen. Sie nivelliert nicht nur
die Differenzen zwischen Opfern und Tätern, zwischen Zeugen und
Nachgeborenen.
Auffällig ist jedoch, dass der Antiziganismus auch bei Deuber-Mankowsky
(wie schon bei Agamben selbst) keine Rolle spielt.
Von Anfang an gab es alle möglichen Überflüssigen, Alte,
Behinderte, Bettler, Dauerarbeitslose usw. einerseits, die Juden als
Macht und Fremdartigkeit, auf die das ungeheure Entfremdungspotential der
modernen Fetischgesellschaft projiziert wurde, andererseits. Dabei muss
zwischen Lagern, Gefängnissen, Arbeitshaus und Auschwitz insofern
unterschieden werden, als dieses das reine Vernichtungslager um der
Vernichtung willen (war) und keinen anderen Zweck hatte (Kurz, 2003, S.
360f.). Und auch heute noch, in der Zerfallsepoche des Kapitalismus, vollzieht
sich die einschließende Ausschließung (...) im polaren Muster
von Rassismus und Antisemitismus, von Definition eines lebensunwerten
Lebens' einerseits und phantasmatischer Projektion eines auszulöschenden,
fremdrassigen` Prinzips andererseits (Kurz, 2003, S. 362).
Neben den Juden waren die Zigeuner die Bevölkerungsgruppe, die
nicht nur als fremdrassig galt, sondern (im Gegensatz zu diesen) in der
Geschichte der Modernisierung mehrmals tatsächlich für
vogelfrei erklärt wurde. Manche bislang getroffene Feststellung
muss wiederholt und ins Gedächtnis gerufen werden, um die
tatsächliche Dramatik des Antiziganismus in der Moderne, im Kapitalismus,
aufzuzeigen und in diesem Zusammenhang die Homo-sacer-Rolle des
Zigeuners, die eigentlich auf der Hand liegt, deutlich zu machen. Hier
ist Wolfgang Wippermann noch einmal anzuführen: Ich kenne keine
Parallelerscheinung, in der eine ganze Gruppe, ein ganzes Volk für
vogelfrei erklärt worden ist. Dies ist ein Sonderfall in der deutschen
Rechtsgeschichte (Wippermann, 1999, S. 95). Die Verfolgung der Zigeuner
erklärt sich zum einen aus dem neuzeitlichen Disziplinierungsprozess und
dem Aufkommen der protestantischen Ethik, zum anderen aus
Fremdenfeindlichkeit, von der Vaganten und Bettler verschont blieben.
Sie hing zusammen mit jener Zuschreibung magischer Fähigkeiten und dem
Vorwurf, dass Zigeuner aufgrund der dunklen Hautfarbe mit dem Teufel im
Bund seien. Einen religiösen Antiziganismus gab es schon vor dem
Rassenantiziganismus.
Und im 20. Jahrhundert gab es wie gezeigt Zigeunerlager schon in der
Weimarer Republik: Die Sinti und Roma wurden nach wie vor diskriminiert,
obwohl sie deutsche Staatsbürger waren, Steuern zahlten und zum
Militär mussten (...). In verschiedenen Städten wurden die Sinti
gezwungen in Zigeunerlagern' zu leben, die teilweise, so in Frankfurt am
Main, auch offiziell Konzentrationslager` genannt wurden (Wippermann,
1999, S. 101). Die zigeunerische Eigenart war ja schon seit Mitte des
19. Jahrhunderts in Sondererfassungen und Ausweispapieren vermerkt. Und wir
erinnern uns: Sinti und Roma waren eine Bevölkerungsgruppe, die in
einer beispiellosen Weise aus primär rassischen Gründen
diskriminiert, entrechtet und überwacht wurde. Sie standen unter einem
Sonderrecht und waren Staatsbürger minderen Rechts (Wippermann, 1997, S.
114 f.), sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik, obwohl die
Zigeunergesetze eindeutig verfassungswidrig waren. Ohne (wie gesagt)
Sinti und Roma in seinen Ausführungen zu nennen, konstatiert Robert Kurz:
Was den eigentlichen Ausnahmezustand kennzeichnet, wie er vor der Moderne
kaum je in Erscheinung trat, ist eine spezifische Erscheinungsform der
Abnormalität`, die von einer spezifischen Art der Internierung
großer oder wenigstens exemplarischer Bevölkerungsanteile begleitet
wird; daher auch der Begriff des Lagers`. Es handelt sich dabei nicht um
herkömmliche Gefängnisse im Rahmen von Strafrechtsverhältnissen,
sondern um vor oder jenseits aller Rechtsverhältnisse liegende
Erfassungen`. Die Erfassung geht hier über den Zugriff vermittelnder
Instanzen hinaus; sie wird unmittelbar (Kurz, 2003, S. 352).
Über Sinti und Roma wurde in der Moderne eigentlich ein permanenter
Ausnahmezustand verhängt. Sinti und Roma wurden im Nationalsozialismus im
KZ vernichtet und von Polizei- und Militärbataillonen z.T. ohne
(Rechts-)Vorgabe von oben umgebracht. Nach 1945 wurden ihnen z.T. ihre
deutschen Pässe nicht zurückgegeben und eine adäquate
Wiedergutmachung verweigert. Als Opfer des Parrojmas bleiben die Sinti und Roma
bis heute häufig unbeachtet. Diese Sonderbehandlung und Sondererfassung
setzte sich auch nach 1945, teilweise bis heute, fort.
Obwohl also die Zigeuner homines sacri par exellcellence sind,
wie ihre Verfolgungsgeschichte beweist, werden sie in aller Regel selbst
noch in kritischen Darstellungen des Rassismus vergessen; und gerade in
diesem Vergessenwerden drückt sich der Umstand aus, dass der
Zigeuner noch unter den Überflüssigen
überflüssig ist, dass er sozusagen den Homo sacer des Homo sacer
darstellt, dass es sich bei ihm gewissermaßen um das Urbild des Homo
sacer, den Ur-Homo-sacer handelt. Der Antiziganismus ist gewissermaßen
der Paria unter den Rassismustypen. Der Zigeuner ist in der
rassistisch-asozialen Konstruktion der Allerletzte in der Gesellschaft, der
Abschaum der Menschheit, wie der deutsche Zigeunerexperte der
Aufklärung Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann (zit. n. Ufen, 1996, S. 75)
erklärt hatte. Er stellt somit das abschreckende Beispiel schlechthin
für den Normalen dar; er zeigt ihm, wohin er kommt, wenn er
nicht funktioniert und pariert, sondern sich wie ein Zigeuner
verhält. Zigeuner sollten nach Grellmann als unterprivilegierte,
die Drecksarbeiten verrichtende Arbeitskräfte auf unterster Stufe in die
Gesellschaft integriert und entsprechenden Umerziehungsprozessen
unterworfen werden (vgl. Ufen, 1996, S. 86).
Die Zigeuner stellen als homines sacri par excellence eben nicht wie in
der antiziganistischen Sicht den Bodensatz der Gesellschaft dar, sondern
den Boden der Gesellschaft selbst: Arbeit (...), verwertbare
abhängige Arbeitskraft, ist das Scheidewasser, das die Moderne nicht erst
seit der Aufklärung, sondern seit Beginn der Konstruktion des Zigeuners
bereithält, um diejenigen, von denen sich bei Anwendung irgendwie
heilsamen Zwangs immerhin noch einiger Nutzen könnte erwarten lassen, von
jenen zu trennen, die als gänzlich unnütz verworfen werden
müssen (Ufen, 1996, S. 84). Im Grunde ist der im ewigen Ausnahmezustand
befindliche und von den Institutionen der Souveränität möglichst
total erfasste Zigeuner der Nomos der Moderne. Fast wie bestellt taucht
er an der Wende zur Neuzeit auf. Verräterisch zeigt sich dies auch darin,
wie dieser spezifische Rassismus in der Behandlung der Rassismen ausgeblendet
wird. Gerade dieser gigantische blinde Fleck verweist auf die Tiefendimension
des Antiziganismus in Moderne und Kapitalismus.
Erwähnt werden muss jedoch, dass es auch fragwürdige
Problematisierungen des Zigeuners als Untermensch geben kann, auch wenn
dies eher selten vorkommt. Aber immerhin gibt es auch die Variante, dass der
Holocaust mit Hinblick auf den Porrajmos relativiert wird (vgl. Margalit,
2001). Als könnte das eine gegen das andere ausgespielt werden!
6. Struktureller Antiziganismus und die verfallende Postmoderne.
So wie von einem strukturellen Antisemitismus gesprochen werden kann,
der sich zentral im Angriff auf die Finanzmärkte und der Imagination einer
Weltverschwörung zeigt, auch wenn von Juden gar nicht die Rede ist, so
wäre auch von einem strukturellen Antiziganismus zu reden, wenn in
der Angst vor dem eigenen Absturz, der Deklassierung, dem Abgleiten in
Asozialität und Kriminalität das antiziganistische Stereotyp implizit
wirkt, auch wenn von den Zigeunern gar nicht die Rede ist. Das
Changieren zwischen sozialer Diskriminierung und rassistischer Ausgrenzung
macht das Zigeunerstereotyp hierzu besonders geeignet. Das zeigt sich auch in
neueren Umfragergebnissen.68% der Deutschen möchten keine Zigeuner
als Nachbarn haben. Ungefähr die gleiche Prozentzahl zeigt Aversionen
gegen Alkoholiker, Drogenabhängige und interessanterweise
Linksradikale, wobei vermutlich weniger der biedere DKPler, sondern der
anarchistische Chaot gemeint ist (vgl. Margalit, 2001, S. 192).
Solche Befunde deuten darauf hin, dass in der Angst vor dem Asozialen,
ja der eigenen potentiellen Asozialität, in der Angst, herauszufallen und
es nicht mehr packen zu können in Rahmen einer anständigen
bürgerlichen Subjektivität, als irrationaler Abwehrmechanismus so
etwas wie ein struktureller Antiziganismus existiert, d.h. die Angst in
Projektion umschlägt. Dieser ist allerdings schwer zu erkennen, weil
bezeichnenderweise Antiziganismus überhaupt kein Thema ist oder allenfalls
marginal problematisiert wird erkennt sich hier doch das moderne Subjekt
mit seiner Homo-sacer-Angst im Spiegel und schaut deswegen von vornherein weg.
Andererseits weiß es schon immer, dass der Zigeuner schlecht ist
und gibt diesem Wissen in Befragungen auch ungeniert Ausdruck, wobei die
Daten seit den 60er Jahren einigermaßen konstant sind (vgl. Margalit,
2001, S. 187 ff.).
Wir sind heute nicht einfach alle potentiell homines sacri, wie Agamben
meint. Vielmehr ist vom Zigeuner als Homo sacer par excellence
auszugehen, wie gezeigt wurde. Zwar kommt der Zigeuner in jedem zum
Ausdruck, aber nicht jeder ist einer. Der reale Zigeuner ist viel
härteren Verfolgungen ausgesetzt als die Deklassierten der Dominanzkultur
und dies schon seit Jahrhunderten. Den ewigen Rom gibt es zwar
nicht, allerdings einen feststehenden Antiziganismus seit der Wende zur
Neuzeit, der in der neuen Krisenepoche abrufbar ist.
Dabei kann in diesen Projektionen die fiedelnde, arbeitsscheue Grille, die dem
Zigeunerstereotyp entspricht, jederzeit zur gefräßigen Heuschrecke
mutieren, die über die (deutschen) Lande herfällt und diese kahl
frisst (was dann vom anderen Ende der ideologischen Diskriminierung her dem
antisemitischen Klischee entspräche). Im Voranschreiten der Krise, und
nachdem die Kunst der stilvollen Verarmung (Alexander von
Schönburg) missglückt ist, könnte allerdings auch umgekehrt die
romantisierende Identifikation mit den immer schon verelendeten
Zigeunern im Gewand der fröhlichen postmodernen Bohème-Armut
schon recht bald wieder an Bedeutung gewinnen. Die Mutation des an der
Börse zockenden (teutonischen) Yuppie der 90er Jahre (der dem
Judenstereotyp nahe kam) zum fröhlich seine Armut zelebrierenden
Abgestürzten (der dem Zigeunerstereotyp entspricht) kann die Kehrseite der
antiziganisistischen Verfolgung und des antiziganistischen Eliminierungswillens
bilden. Schon spricht Robert Leicht (im Kontext von Hartz IV) von den
Avantgardisten des Mangels im Hinblick auf die Armut der freien
Künstler: Wir alle wissen zu wenig vom Leben der Künstler. Wir
sollten alle genauer hinschauen: Künstler sind Avantgarde im Umgang mit
Knappheit und Unsicherheit. Wir werden von ihnen lernen müssen (Die Zeit,
Nr.27, 2006, S. 39). Ist das noch Bohème oder schon die
Unterschicht?, fragt die Kultband des neuen Mittelschichtsprekariats
Britta, jedoch kritisch (Der Spiegel, Nr. 31, 2006, S 52). Und schon
ist, in Abwandlung Marxscher Terminologie, vom Lumpenbürgertum
(Claudio Magris) die Rede.
7. Resümee
Im Grunde genommen beruht der Kapitalismus auf der Angst, vogelfrei zu
sein, nur noch nacktes Leben zu sein und dies von Anfang an. Die
Institutionen und Agenturen des Kapitalismus wie auch die Subjekte selbst tun
in Form von Disziplinierungsarbeit alles, um diese Gefahr abzuwenden.
Man möchte auf gar keinen Fall wie die Zigeuner sein, das
Schreckgespenst, der Alptraum aller bürgerlich-kapitalistischen
Subjektivität schlechthin. Von ihm gilt es sich fundamental zu
unterscheiden, bündeln sich darin doch tiefste Unanständigkeit,
Delinquenz, Asozialität, und Fremdrassigkeit mit
Müßiggang und Hedonismus, denen man zu entsagen hat, wenn man seine
Lebensweise und seine Integration nicht gefährden will. Das
Zigeunerstereotyp scheint wie kein anderes rassistisches Stereotyp geeignet zu
sein, Aufschluss über die bürgerlich-kapitalistische
Subjektivität zu geben. Das bürgerliche Subjekt erblickt hier wie im
Spiegel seine ureigensten Ängste, und gleichzeitig seine hedonistischen
Sehnsüchte. Es ist gerade diese Kombination, die es zutiefst entsetzt.
Entsagt man nicht, so stürzt man ab, wird zum Outlaw, lebt nicht nur
außerhalb des Gesetzes, sondern jenseits normierter Sozialität, ist
draußen, deklassiert, asozial, der Allerletzte in der
Arbeitsgesellschaft nicht bloß objektiv, sondern man packt
es auch selbst, subjektiv, nicht mehr. Deshalb ist der Kapitalismus schon
immer auf die Existenz von Unterschichten angewiesen, mögen diese in
wohlfahrtsstaatlichen Zeiten auch noch so marginal gewesen sein.
In diesem Zusammenhang ist der Terminus des Homo sacer aus der
ausschließlich rechtsphilosophischen Bestimmung bei Agamben zu entbinden
und seine Bedeutung auch ökonomisch, kulturell-symbolisch und
sozialpsychologisch im Kontext der kapitalistischen Verhältnisse zu
erschließen. So betrachtet, scheint der antiziganistische Impuls,
der auf politisch-rechtlicher Ebene auf den Ausschluss der Sinti und Roma als
Staatsbürger drängt, das bekannte Muster einer Selbstverfolgung im
Anderen zu wiederholen (Maciejewski, 1996, S. 17). Die Abwehr, da
hinzuschauen, ist wohl besonders groß daher auch die weitgehende
Nichtbefassung mit dem Antiziganismus. Der Asoziale der
Dominanzkultur unterscheidet sich grundsätzlich vom
Zigeuner, da für ihn prinzipiell die Möglichkeit bestehen
soll, aus seiner Situation herauszukommen und wieder dazu zu
gehören (zumindest galt dies für die fordistische Phase der
Nachkriegszeit mit ihren relativen sozialstaatlichen Pufferungen). Dennoch ist
die Angst vor dem Zigeuner-Werden fundamental für die
bürgerliche Subjektivität.
Andere Rassismen und der Antisemitismus haben andere Inhalte, die in ihrer
ideologischen Eigenbedeutung nicht ignoriert werden dürfen. Den Juden, die
in der antisemitischen Projektion auch als arbeitsscheu und parasitär
gelten, werden Macht, Weltherrschaft und Überzivilisiertheit/negatives
Übermenschentum zugeschrieben
Insofern ist etwa auch die Vorstellung zu kritisieren, Frauen, Schwarze,
Wilde, Zigeuner stünden alle gleichermaßen für
Natur und Sinnlichkeit und stellten in gleicher Weise die
Schattenseite des Werts dar. Im Gegensatz zum Schwarzen, der
ebenfalls als sinnlich gilt, sich aber versklaven lässt, und zum
ebenfalls als sinnlich konnotierten Südseeinsulaner, der unschuldig
naiv, gewissermaßen ungetrübt, das Paradies versinnbildlichen soll,
stellt der Zigeuner den rassistisch konstruierten Untermenschen in der
eigenen Gesellschaft dar, verbunden mit der Zuschreibung von Asozialität,
Kriminalität usw. Der Schwarze ist als Untermensch im
Kontext von Kolonialisierungsprozessen konstruiert; er steht weniger für
Asozialität (und ist deshalb für die Mitglieder der Dominanzkultur
weniger angstbesetzt), er gilt weniger als Parasit und Krimineller, stiehlt
nicht von Natur aus (bzw. dies gehört nicht zu seiner
Kultur). (Weiße) Frauen galten hingegen in der Moderne als
domestizierte Naturwesen im Gegensatz zum rationalen und kontrollierten
männlichen Subjekt.
Im Gegensatz zu den Konstrukten der Schwarzen, Wilden,
Indianer gingen die Zigeuner in der Neuzeit von vornherein eine
Symbiose mit der Dominanzkultur kraft ihrer ökonomischen und kulturellen
Funktionen (etwa in der Musik) ein, vergleichbar mit den Juden, aber in wieder
anderer Weise. Dabei unterscheidet die apriorische Verbindung mit
Asozialität die Rolle des Zigeuners auch von der Vorstellung des
slawischen Untermenschen im Nationalsozialismus, der dazu ausersehen
war, für das deutsche Volk Sklavendienste zu verrichten. Holocaust
und Porrajmos unterscheiden sich insofern von anderen Genoziden etwa im
kolonialistischen Kontext, als es um keinerlei ökonomische Interessen und
Kalküle ging, sondern um Identitätsbehauptungen innerhalb der
Dominanzkultur im Kontext bürgerlich-kapitalistischer
Subjektbildung überhaupt. Dabei müssen Antisemitismus und
Antiziganismus in einem Komplementärzusammenhang gesehen werden. Der Jude
wird gewissermaßen als Zigeuner der Oberschicht und der
Zigeuner als Jude der Unterschicht konstruiert, woraus seine Rolle als
Homo sacer schlechthin erwächst.
Auf der anderen Seite gibt es in der linken Szene heute Orientierungen und
Bestrebungen, die (selbst-)romantisierend an das gängige Stereotyp
andocken könnten, wobei auch hier die Zigeuner nicht
ausdrücklich erwähnt werden müssen. Zur Phrase verkommene
Slogans wie Aneignung, eine gewisse Bauwagenszene, die Entdeckung
der Faulheit (Corinne Meier) und eine oberflächliche, unvermittelte
Arbeitskritik, die inzwischen verbreitet ist, sprechen dafür. Es
wäre nicht verwunderlich, wenn da die alte Zigeunerromantik und der
Zigeuner (als schon immer widerständig gedachter) in
falscher Verarbeitung der eigenen Ohnmacht zu neuen Ehren kommen würden.
Wertkritischen Kitsch, der in der Vergangenheit und im Heute schon unmittelbar
Momente einer anderen Gesellschaft entdecken will (sei es im Copyleftprinzip,
in der Pflege der Oma oder wo auch immer) gibt es schon längst (zur Kritik
vgl. Scholz, 2005). Wäre da vielleicht der noch nicht entdeckte
Zigeuner ein gefundenes Fressen für unmittelbarkeitssüchtige
Betroffenheitsapostel der abstürzenden neuen Mittelschicht, die nach einer
konkreten Utopie im hier und heute gieren?
Das Wohnen in Bauwagen und ähnliche Phänomene, die aufgrund der
massiven Verelendungstendenzen in Zukunft wohl noch zunehmen werden, sind
nolens volens Bestandteile einer Überlebensstrategie in der Krise; sie
sind kein Licht am Ende des Tunnels auf dem Weg in eine andere Gesellschaft,
die nur über komplexere Vermittlungen und im Rahmen einer
weltgesellschaftlichen Transformation zu haben sein wird. Nur im Rahmen einer
solchen weiter gefassten Perspektive kann auch das Stereotyp des
Zigeuners sein Ende finden, indem er einfach sein kann, aber nicht so
sein muss; vorher jedoch ist das Stereotyp als geheimes und vergessenes
Homo-Sacer-Fundament der patriarchalen Moderne ins Licht zu heben. Dies ist die
Voraussetzung , dass überhaupt alle Individuen als reale und leibhaftige
Menschen existieren können und der Zigeuner weder sesshaft werden
noch weiterziehen muss, weil er sonst ins Lager kommt, mit Sondergesetzten
belegt, sich in einem permanenten Ausnahmezustand befindet und
schließlich totgeschlagen und vernichtet wird.
Literatur
Agamben, Georgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben,
Frankfurt/Main, 2002
Deuber-Mankowsky, Astrid: Homo sacer, das bloße Leben und das Lager.
Anmerkungen zu einem erneuten Versuch einer Kritik der Gewalt. In: Die
Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie. Heft 25
(2002), S. 95 114
Dornis, Martin: Von der Harmoniesucht zum Vernichtungwahn. Antisemitismus als
basale Krisenideologie der Wertabspaltungs-Vergesellschaftung. In: Exit! Krise
und Kritik der Warengesellschaft 3 (2006), S. 103 156
Gronemeyer, Reimer: Zur Geschichte der Zigeuner. In: Gronemeyer,
Reimer/Rakelmann, Georgia: Die Zigeuner. Reisende in Europa. Roma, Sinti,
Manouches, Gitanos, Gypsies, Kalderasch, Vlach und andere, Köln, 1988
Haupt, Gernot: Antiziganismus und Sozialarbeit. Elemente einer
wissenschaftlichen Grundlegung, gezeigt an Beispielen aus Europa mit dem
Schwerpunkt Rumänien, Berlin, 2006
Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Gesammelte
Schriften, Bd. 5, Frankurt/Main, 1973
Hund, Wulf D.: Das Zigeuner-Gen. Rassistische Ethik und der Geist des
Kapitalismus. In: Hund, Wulf D. (Hrsg.): Zigeuner. Geschichte und Struktur
einer rassistischen Konstruktion, Duisburg, 1996
Hund, Wulf D.: Romantischer Rassismus. Zur Funktion des Zigeunerstereotyps. In:
Hund, Wulf D. (Hrsg.): Zigeunerbilder. Schnittmuster rassistischer Ideologie,
Duisburg, 2000
Krausnick, Michael: Der Kampf der Sinti und Roma um Bürgerrechte. In:
Giere, Jacqueline (Hrsg.): Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners.
Zur Genese eines Vorurteils, Frankfurt/Main, 1996
Kurz, Robert: Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die
Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef,
2003
Maciejewski, Franz: Elemente des Antiziganismus. In: Giere, Jacqueline (Hrsg.):
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Anmerkung
(1) geküzte Fassung des gleichnamigen Textes in EXIT!, Ausgabe 4, 2007; online abrufbar unter:
www.exit-online.org/link.php?tabelle=schwerpunkte&posnr=184