Moishe Postone
Nationalsozialismus und Antisemitismus
Ein theoretischer Versuch
I.
Meine Absicht ist nicht die Beantwortung der Frage, warum dem Nazismus und dem
modernen Antisemitismus ein historischer Durchbruch in Deutschland gelungen
ist. Ein solcher Versuch müßte einer Betrachtung der Besonderheit
deutscher Entwicklung Rechnung tragen: darüber ist zur Genüge
gearbeitet worden. Dieser Essay will vielmehr untersuchen, was damals
durchbrach: eine Betrachtung derjenigen Aspekte des modernen Antisemitismus,
die als unabdingbarer Bestandteil des deutschen Nationalsozialismus betrachtet
werden müssen. Dies auch als ein Ansatz, die Vernichtung des
europäischen Judentums zu erklären, als die notwendige Voraussetzung
einer adäquaten Beantwortung der Frage, warum es gerade in Deutschland
geschah.
Was ist die Besonderheit des Holocaust und des modernen Antisemitismus? Sicher
keine Frage der Quantität, sei es der Zahl der Menschen, die ermordet
worden sind, noch des Ausmaßes ihres Leidens. Die Frage zielt vielmehr
auf die qualitative Besonderheit. Bestimmte Aspekte der Ausrottung des
europäischen Judentums bleiben so lange unerklärlich, wie der
Antisemitismus als bloßes Beispiel für Vorurteil, Fremdenhaß
und Rassismus allgemein behandelt wird, als Beispiel für
Sündenbock-Strategien, deren Opfer auch sehr gut Mitglieder irgendeiner
anderen Gruppe hätten gewesen sein können.
Charakteristisch für den Holocaust war der verhältnismäßig
geringe Anteil an Emotion und unmittelbarem Haß (im Gegensatz zu Pogromen
zum Beispiel); dafür aber ein Selbstverständnis ideologischer
Mission, und, was das wichtigste ist: Der Holocaust hatte keine funktionelle
Bedeutung. Die Ausrottung der Juden war kein Mittel zu einem anderen Zweck. Sie
wurden nicht aus militärischen Gründen ausgerottet oder um gewaltsam
Land zu nehmen (wie bei den amerikanischen Indianern); es ging auch nicht um
die Auslöschung der potentiellen Widerstandskämpfer unter den Juden,
mit dem Ziel, den Rest als Heloten besser ausbeuten zu können. (Dies war
übrigens die Politik der Nazis Polen und Russen gegenüber.) Es gab
auch kein äußeres Ziel. Die Ausrottung der Juden
mußte nicht nur total sein, sondern war sich selbst Zweck
Ausrottung um der Ausrottung willen -, ein Zweck, der absolute Priorität
beanspruchte.
(1)
Eine funktionalistische Erklärung des Massenmords und eine
Sündenbock-Theorie des Antisemitismus können nicht einmal im Ansatz
erklären, warum in den letzten Kriegsjahren, als die deutsche Wehrmacht
von der Roten Armee überrollt wurde, ein bedeutender Teil des
Schienenverkehrs für den Transport der Juden zu den Gaskammern benutzt
wurde und nicht für die logistische Unterstützung des Heeres.
Ist die qualitative Besonderheit der Ausrottung des europäischen Judentums
einmal erkannt, wird klar, daß Erklärungsversuche, die sich auf
Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie, sexuelle Unterdrückung oder die
autoritäre Persönlichkeit stützen, viel zu allgemein bleiben.
Die Besonderheit des Holocaust erfordert eine spezifischere Vermittlung, um sie
wenigstens im Ansatz zu verstehen.
Die Ausrottung des europäischen Judentums steht natürlich in
Beziehung zum Antisemitismus. Die Besonderheit des ersteren muß auf
letzteren bezogen werden. Darüber hinaus muß der moderne
Antisemitismus im Hinblick auf den Nazismus als Bewegung verstanden werden
eine Bewegung, die in der Sprache ihres eigenen
Selbstverständnisses eine Revolte war.
Der moderne Antisemitismus, der nicht mit dem täglichen antijüdischen
Vorurteil verwechselt werden darf, ist eine Ideologie, eine Denkform, die in
Europa im späten 19. Jahrhundert auftrat. Sein Auftreten setzt
Jahrhunderte früherer Formen des Antisemitismus voraus. Antisemitismus ist
immer ein integraler Bestandteil der christlich-westlichen Zivilisation
gewesen. Allen Formen des Antisemitismus ist eine Vorstellung von
jüdischer Macht gemeinsam: die Macht, Gott zu töten, die Beulenpest
loszulassen oder, in jüngerer Zeit, Kapitalismus und Sozialismus
herbeizuführen. Ein manichäisches Denken; die Juden spielen darin die
Rolle der Kinder der Finsternis.
Nicht nur Ausmaß, sondern auch Qualität der den Juden
zugeschriebenen Macht unterscheidet den Antisemitismus von anderen Formen des
Rassismus. Alle Formen des Rassismus schreiben dem Anderen potentielle Macht
zu. Diese Macht ist gewöhnlich, aber konkret materiell und sexuell
die Macht des Unterdrückten (als Macht des Verdrängten), die
Macht des Untermenschen. Die den Juden antisemitisch zugeschriebene
Macht wird nicht nur als größer, sondern auch im Unterschied zur
rassistischen Vorstellung über eine potentielle Macht der
Untermenschen als wirklich angesehen. Seine qualitative
Andersartigkeit im modernen Antisemitismus wird mit Attributen wie
mysteriöse Unfaßbarkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit umschrieben.
Diese Macht erscheint gewöhnlich nicht als solche, sondern muß ein
konkretes Gefäß, einen Träger, eine Ausdrucksweise finden. Weil
diese Macht nicht konkret gebunden, nicht verwurzelt ist, wird sie
als ungeheuer groß und schwer kontrollierbar empfunden. Sie steht hinter
den Erscheinungen, ist aber nicht identisch mit ihnen. Ihre Quelle ist daher
verborgen: konspirativ. Die Juden stehen für eine ungeheuer machtvolle,
unfaßbare internationale Verschwörung.
Ein Naziplakat bietet ein plastisches Beispiel für diese Wahrnehmung: Es
zeigt Deutschland dargestellt als starken, ehrlichen Arbeiter ,
das in Westen durch einen fetten, plutokratischen John Bull bedroht ist und im
Osten durch einen brutalen, barbarischen, bolschewistischen Kommissar. Jedoch
sind diese beiden feindlichen Kräfte bloße Marionetten. Über
den Rand des Globus, die Marionetten fest in der Hand, späht der Jude.
Eine solche Vision war keineswegs Monopol der Nazis. Der moderne Antisemitismus
ist dadurch gekennzeichnet, daß die Juden für die geheime Kraft
hinter jenen Widersachern, dem plutokratischen Kapitalimus und dem Sozialismus
gehalten werden. Das internationale Judentum wird darüber
hinaus als das wahrgenommen, was hinter dem Asphaltdschungel der
wuchernden Metropolen, hinter der vulgären, materialistischen,
modernen Kultur und, generell, hinter allen Kräften, die zum
Niedergang althergebrachter sozialer Zusammenhänge, Werte und
Institutionen führen, steht. Die Juden stellen demnach eine fremde,
gefährliche und destruktive Macht dar, die die soziale
Gesundheit der Nation untergräbt. Für den modernen
Antisemitismus ist nicht nur sein säkularer Inhalt charakteristisch,
sondern auch sein systemartiger Charakter. Er beansprucht, die Welt zu
erklären.
Diese deskriptive Bestimmung des modernen Antisemitismus ist zwar notwendig, um
ihn von Vorurteil oder Rassismus im allgemeinen zu unterscheiden; sie kann
jedoch als solche noch nicht die innere Beziehung zum Nationalsozialismus
aufzeigen. Die Absicht also, die übliche Trennung zwischen einer
sozio-ökonomischen Analyse des Nazismus und einer Untersuchung des
Antisemitismus zu überwinden, ist auf dieser Ebene noch nicht
erfüllt. Es bedarf einer Erklärung des oben beschriebenen
Antisemitismus, die fähig ist, beides zu vermitteln. Sie muß sich
historisch auf die gleichen Kategorien stützen, die für die
Erklärung des Nationalsozialismus gültig sind. Es ist nicht meine
Absicht, sozialpsychologische oder psychoanalytische Erklärungen zu
negieren,
(2)sondern vielmehr einen historisch-erkenntnistheoretischen
Zusammenhang zu erläutern, innerhalb dessen weitere psychologische
Spezifizierung stattfinden kann. Solch ein Zusammenhang muß den
besonderen Inhalt des modernen Antisemitismus fassen und hat insofern
historisch zu sein, als erklärt werden muß, warum diese Ideologie
beginnend im ausgehenden 19. Jahrhundert sich zu jener Zeit so
verbreitete. Fehlt ein solcher Zusammenhang, bleiben alle anderen
Erklärungsversuche, die sich um Subjektivität zentrieren, historisch
unspezifisch. Es bedarf einer Erklärung in Form einer materialistischen
Erkenntnistheorie.
Eine vollständige Entfaltung des Antisemitismus-Problems würde den
Rahmen dieses Essays bei weitem sprengen. Dennoch gilt es hervorzuheben,
daß eine sorgfältige Überprüfung des modernen
antisemitischen Weltbildes das Vorliegen einer Denkform deutlich werden
läßt, in der die rasche Entwicklung des industriellen Kapitalismus
durch den Juden personifiziert und mit ihm identifiziert wird. Es handelt sich
dabei nicht um die bloße Wahrnehmung der Juden als Träger von Geld
wie im traditionellen Antisemitismus; vielmehr werden sie für
ökonomische Krisen verantwortlich gemacht und mit gesellschaftlichen
Umstrukturierungen und Umbrüchen identifiziert, die mit der raschen
Industrialisierung einhergehen: explosive Verstädterung, der Untergang von
traditionellen sozialen Klassen und Schichten, das Aufkommen eines
großen, in zunehmendem Masse sich organisierenden industriellen
Proletariats und soweiter. Mit anderen Worten: Die abstrakte Herrschaft des
Kapitals, wie sie besonders mit der raschen Industrialisierung einhergeht,
verstrickte die Menschen in das Netz dynamischer Kräfte, die, weil sie
nicht durchschaut zu werden vermochten, in Gestalt des Internationalen
Judentums wahrgenommen wurden.
Dies ist nicht wesentlich mehr als ein erster Zugang. Die Personifizierung ist
zwar beschrieben, aber nicht erklärt. Es fehlt die erkenntnistheoretische
Begründung. Ansätze dazu hat es gegeben. Das Problem jener Theorien
wie der Horkheimers
(3), die sich wesentlich auf die
Identifizierung der Juden mit dem Geld und damit auf die
Zirkulationssphäre beziehen, besteht darin, daß sie nicht imstande
sind, die antisemitische Vorstellung einzufangen, Juden stünden hinter
Sozialdemokratie und Kommunismus. Auf den ersten Blick erscheinen Theorien wie
die George Mosses
(4), die den modernen Antisemitismus als Revolte
gegen die Moderne interpretieren, angemessener. Das Problem, das
sich ihnen stellt, ist wiederum der Umstand, daß die Moderne
ohne Zweifel das Industriekapital einschließt, welches wie bekannt
gerade nicht Objekt antisemitischer Angriffe war; und dies sogar in der
Periode rascher Industrialisierung. Nötig ist also ein Ansatz, der die
Unterscheidung zwischen dem trifft, was moderner Kapitalismus ist und der Form,
in der er erscheint; also die Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung.
Das Konzept der Moderne erlaubt eine solche Unterscheidung freilich
nicht.
II
Diese Überlegung führt zu Marx Begriff des Fetischs, einem
Begriff, der die Grundlage einer historischen Erkenntnistheorie bildet, die
sich in der Unterscheidung zwischen dem Wesen der kapitalistischen
Verhältnisse und ihren Erscheinungsformen gründet.
Was dem Begriff des Fetischs vorausgeht, ist Marx Analyse der Ware, des
Geldes, des Kapitals als Formen gesellschaftlicher Verhältnisse und nicht
nur als bloße ökonomische Bestimmungen.
(5) Nach seiner
Analyse erscheinen kapitalistische Formen gesellschaftlicher Beziehungen nicht
als solche, sondern drücken sich in vergegenständlichter Form aus.
Weil Arbeit im Kapitalismus auch die Funktion einer gesellschaftlichen
Vermittlung hat (abstrakte Arbeit), ist die Ware nicht bloß
Gebrauchsgegenstand, in dem konkrete Arbeit vergegenständlicht ist,
sondern sie verkörpert auch gesellschaftliche Verhältnisse.
Vorkapitalistisch waren Gebrauchsgegenstände nach traditionellen
Beziehungs- und Herrschaftsformen verteilt; im Kapitalismus aber sind Waren
selber gesellschaftliche Vermittlung anstelle unmittelbarer sozialer
Verhältnisse. Die Ware hat einen Doppelcharakter: Wert und
Gebrauchswert. Als Objekt drückt die Ware soziale Verhältnisse aus
und verschleiert sie gleichzeitig. Diese Verhältnisse haben keine andere,
davon unabhängige Ausdrucksform. Durch diese Form der
Vergegenständlichung gewinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse des
Kapitalismus ein Eigenleben, sie bilden eine zweite Natur, ein
System von Herrschaft und Zwängen, das obwohl gesellschaftlich
unpersönlich, sachlich und objektiv ist und deshalb
natürlich zu sein scheint. Diese gesellschaftliche Dimension bestimmt die
Waren und ihre Produktionsweise. Der Fetisch verweist nun auf die Denkweisen,
die auf Wahrnehmungen und Erkenntnissen basieren, die in den Erscheinungsformen
der gesellschaftlichen Verhältnisse befangen bleiben.
Betrachtet man die besonderen Charakteristika der Macht, die der moderne
Antisemitismus den Juden zuordnet nämlich Abstraktheit,
Unfaßbarkeit, Universalität, Mobilität dann fällt
auf, daß es sich hierbei um Charakteristika der Wertdimension jener
gesellschaftlichen Formen handelt, die Marx analysiert hat. Mehr noch: diese
Dimension wie die den Juden unterstellte Macht erscheint nicht
unmittelbar, sondern nimmt vielmehr die Form eines stofflichen Trägers,
der Ware, an.
Um die oben beschriebene Personifizierung zu deuten und dabei die Frage zu
klären, warum der moderne Antisemitismus, der sich gegen so viele Aspekte
der Moderne wandte, sich dem industriellen Kapital und der modernen
Technologie gegenüber so verdächtig still verhielt, wird es an dieser
Stelle nötig sein zu analysieren, wie kapitalistisch-gesellschaftliche
Verhältnisse sich darzustellen pflegen.
Ich beginne mit der Warenform als Beispiel. Die dialektische Einheit von Wert
und Gebrauchswert in der Ware erfordert, daß dieser
Doppelcharakter sich in der Wertform entäußert, in der
er doppelt erscheint: als Geld (die Erscheinungsform des Werts) und
als Ware (die Erscheinungsform des Gebrauchswerts). Diese Entäusserung
erweckt den Schein, als enthalte die Ware, die eigentlich sowohl Wert wie
Gebrauchswert ausdrückt, nur letzteren, das heißt, sie erscheint als
rein stofflich und dinglich. Weil die gesellschaftliche Dimension
der Ware dabei entfällt, stellt sich das Geld als einziger Ort des Wertes
dar, als Manifestation des ganz und gar Abstrakten anstatt als
entäußerte Erscheinungsform der Wertseite der Ware selbst. Die dem
Kapitalismus eigene Form vergegenständlichter gesellschaftlicher
Beziehungen erscheint so auf der Ebene der Warenanalyse als Gegensatz zwischen
Geld als Abstraktem einerseits und stofflicher Natur andererseits. Die
kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen scheinen ihren Ausdruck nur in
der abstrakten Dimension zu finden etwa als Geld und als
äußerliche, abstrakte, allgemeine Gesetze.
Ein Aspekt des Fetischs ist also, daß kapitalistische gesellschaftliche
Beziehungen nicht als solche in Erscheinung treten, und sich zu dem
antinomisch, als Gegensatz von Abstraktem und Konkretem, darstellen. Und weil
beide Seiten der Antinomie vergegenständlicht sind, erscheint jede als
quasi-natürlich: Die abstrakte Seite tritt in der Gestalt von
objektiven Naturgesetzen auf, und die konkrete Seite erscheint als
reine stoffliche Natur. Die Struktur entfremdeten gesellschaftlicher Beziehung,
die dem Kapitalismus eigen ist, hat die Form einer quasi-natürlichen
Antinomie, in der Gesellschaftliches und Historisches nicht mehr erscheinen.
Diese Antinomie wiederholt sich im Gegensatz positivistischer und romantischer
Denkweisen. Die Mehrzahl der kritischen Untersuchungen fetischistischer
Denkformen bezieht sich vor allem auf jenen Strang der Antinomie, der das
Abstrakte als überhistorisch hypostasiert das sogenannte
bürgerliche Denken und damit den gesellschaftlichen und
historischen Charakter der bestehenden Beziehungen verschleiert. In diesem
Beitrag geht es um einen anderen Strang, nämlich um jene Formen von
Romantizismus und Revolte, die ihrem Selbstverständnis nach
antibürgerlich sind, in Wirklichkeit jedoch das Konkrete hypostasieren und
damit innerhalb der Antinomie der kapitalistischen gesellschaftlichen
Beziehungen verharren.
Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieser
Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der
Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen, zum Beispiel
Geld als Wurzel allen Übels. Dem wird die bestehende, konkrete
Seite dann als das natürliche oder ontologisch Menschliche,
das vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft
stehe, positiv entgegengestellt. So wird wie etwa bei Proudhon
konkrete Arbeit als das nichtkapitalistische Moment verstanden, das der
Abstraktheit des Geldes entgegengesetzt ist.
(6) Daß konkrete
Arbeit selbst kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen verkörpert und
von ihnen materiell geformt ist, wird nicht gesehen.
Mit der Fortentwicklung des Kapitalismus, der Kapitalform und ihres Fetischs
bekommt die dem Warenfetisch innewohnende Naturalisierung neue Dimensionen. Wie
bei der Warenform ist die Kapitalform durch das antinomische Verhältnis
des Abstrakten und Konkreten, die beide natürlich erscheinen,
gekennzeichnet. Die Qualität des Natürlichen ist aber
unterschiedlich. Die des Warenfetischs ist die letzten Endes harmonische
Beziehung einzelner abgeschlossener Einheiten. (Dieses Denkmodell steht nicht
nur hinter der klassischen politischen Ökonomie, sondern auch hinter dem
Frühsozialismus und Anarchismus).
Das Kapital ist nach Marx in seiner prozessualen Form als selbstverwertender
Wert charakterisiert, als die unaufhörliche rastlose Selbstvermehrung des
Wertes. Es erscheint in der Form von Geld sowie in der von Waren, das
heißt, es hat keine fertige und endgültige Gestalt. Kapital
erscheint als rein abstrakter Prozeß. Seine konkrete Dimension
ändert sich dementsprechend: Individuelle Arbeiten bilden nicht
länger abgeschlossene Einheiten, sondern werden mehr und mehr zu
Teilkomponenten eines größeren dynamischen Systems, das Mensch wie
Maschine umfaßt und dessen Zweck Produktion um der Produktion willen ist.
Das Ganze wird größer als die Summe der sie konstituierenden
Individuen und hat einen Zweck, der außerhalb ihrer liegt. Die
Kapitalform gesellschaftlicher Verhältnisse hat einen blinden,
prozessualen, quasi-organischen Charakter. Die dem Fetisch immanente
Naturalisierung wird zunehmend biologisch aufgefaßt. Das mechanische
Weltbild des 17. Und 18. Jahrhunderts verliert an Bedeutung; mehr und mehr
übernehmen organische Prozesse an Stelle statischer Mechanik die Form des
Fetischs. Das drückt sich zum Beispiel in der Verbreitung solcher
Denkformen aus wie der Lehre vom Staat als lebendigem Organismus, aber auch in
den Rassentheorien und der zunehmenden Bedeutung des Sozialdarwinismus im
späten 19. Jahrhundert.
Gesellschaft wie historischer Prozeß werden zunehmend biologisch
begriffen. Diesen Aspekt des Kapitalfetischs will ich jedoch hier nicht weiter
verfolgen. Festzuhalten ist, welche Wahrnehmungsweisen von Kapital sich daraus
ergeben. Wie angedeutet, läßt der Doppelcharakter auf
der logischen Ebene der Warenanalyse die Arbeit als ontologische
Betätigungsweise erscheinen und nicht als eine Tätigkeit, die
materiell von den gesellschaftlichen Beziehungen geformt wird; er stellt die
Ware als rein stoffliches Ding dar und nicht als Vergegenständlichung
vermittelter gesellschaftlicher Beziehungen. Auf der logischen Ebene des
Kapitals läßt der Doppelcharakter (Arbeits- und
Verwertungsprozeß) industrielle Produktion als ausschließlich
materiellen schöpferischen Prozeß, ablösbar vom Kapital,
erscheinen. Die manifeste Form des Konkreten ist nun organischer. So kann das
industrielle Kapital als direkter Nachfolger natürlicher
handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum
parasitären Finanzkapital, als organisch
verwurzelt. Seine Organisation scheint der Zukunft verwandt zu sein; der
gesellschaftliche Zusammenhang, in dem es sich befindet, wird als eine
übergeordnete organische Einheit gefaßt: Gemeinschaft, Volk,
Rasse.
Kapital selbst oder das, was als negativer Aspekt des Kapitalismus
verstanden wird wird lediglich in der Erscheinungsform seiner abstrakten
Dimension verstanden: als Finanz- und zinstragendes Kapital. In dieser Hinsicht
steht die biologistische Ideologie, die die konkrete Dimension (des
Kapitalismus) als natürlich und gesund dem
Kapitalismus (wie er erscheint) gegenüberstellt, nicht im Widerspruch zur
Verklärung des Industriekapitals und seiner Technologie. Beide stehen auf
der dinglichen Seite der Antinomie.
Das wird gewöhnlich mißverstanden. So zum Beispiel von Norman
Mailer, der in einer Verteidigung des NeoRomantizismus (und des Sexismus) in
seinem Buch The Prisoner of Sex schrieb, daß Hitler zwar von
Blut gesprochen, aber die Maschine gebaut habe. Dabei blieb unverstanden: In
fetischistischem Antikapitalismus dieser Art wird beides, Blut wie
Maschine, als konkretes Gegenprinzip zum Abstrakten gesehen. Die positive
Hervorhebung der Natur, des Blutes, des Bodens, der konkreten
Arbeit, der Gemeinschaft, geht ohne weiteres zusammen mit einer Verherrlichung
der Technologie und des industriellen Kapitals. Diese Denkweisen sind
genausowenig anachronistisch oder Ausdruck einer historischen
Ungleichzeitigkeit zu nennen, wie der Aufsteig von Rassentheorien im
späten 19. Jahrhundert als Atavismus aufzufassen ist. Sie sind historisch
neue Denkformen, nicht die Wiederauferstehung einer älteren Form. Sie
erscheinen nur als atavistisch oder anachronistisch aufgrund ihrer Betonung der
biologischen Natur. Das ist jedoch selbst Teil des Fetischs, der das
Natürliche als wesensgemäß und
ursprungsnäher erscheinen läßt und die geschichtliche
Entwicklung als zunehmend künstlich. Solche Denkformen begleiten die
Entwicklung des industriellen Kapitalismus. Sie sind Ausdruck jenes
antinomischen Fetischs, der die Vorstellung erzeugt, das Konkrete sei
natürlich, und dabei das gesellschaftlich
Natürliche zunehmend so darstellt, daß es biologisch
erscheint. Diese Form des Antikapitalismus erscheint daher nur so,
als ob sie sehnsüchtig rückwärts gewandt sei; als Ausdruck des
Kapitalfetischs drängt sie in Wirklichkeit vorwärts. Sie tritt auf im
Übergang vom liberalen zum organisierten industriellen Kapitalismus.
(7)
Diese Form des Antikapitalismus beruht also auf dem einseitigen
Angriff auf das Abstrakte. Abstraktes und Konkretes werden nicht in ihrer
Einheit als begründende Teile einer Antinomie verstanden, für die
gilt, daß die wirkliche Überwindung des Abstrakten der
Wertseite die geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes selbst
sowie jeder seiner Seiten einschließt. Statt dessen findet sich lediglich
der einseitige Angriff gegen die abstrakte Vernunft, das abstrakte Recht und,
auf anderer Ebene, gegen das Geld- und Finanzkapital. So gesehen entspricht
dieses Denken seiner komplementären liberalen Position in antinomischer
Weise: Im Liberalismus bleibt die Herrschaft des Abstrakten unbefragt; eine
Unterscheidung zwischen positiver und kritischer Vernunft wird nicht
getroffen.
Der antikapitalistische Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke
auf das Abstrakte als Abstraktem stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint
vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die
konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende
abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. So wird der
Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von
Arier und Jude. Der moderne Antisemitismus besteht in der Biologisierung des
Kapitalismus der selbst nur unter der Form des erscheinenden Abstrakten
verstanden wird als internationales Judentum.
Meiner Deutung nach wurden die Juden also nicht nur mit dem Geld, das
heißt der Zirkulationssphäre, sondern mit dem Kapitalismus
überhaupt gleichgesetzt. Diese fetischisierende Anschauung schloß in
ihrem Verständnis des Kapitalismus alle konkreten Aspekte wie Industrie
und Technologie aus. Der Kapitalismus erschien nur noch als das Abstrakte, das
wiederum für die ganze Reihe konkreter gesellschaftlicher und kultureller
Veränderungen, die mit der schnellen Industrialisierung verbunden sind,
verantwortlich gemacht wurde. Die Juden wurden nicht bloß als
Repräsentanten des Kapitals angesehen (in diesem Fall wären die
antisemitischen Angriffe wesentlich klassenspezifischer gewesen), sie wurden
vielmehr zu Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen,
unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals. Bestimmte
Formen kapitalistischer Unzufriedenheit richteten sich gegen die in Erscheinung
tretende abstrakte Dimension des Kapitals in Gestalt des Juden, und zwar nicht
etwa, weil die Juden bewußt mit der Wertdimension identifiziert worden
waren, sondern vielmehr deshalb, weil durch den Gegensatz seiner konkreten und
abstrakten Dimensionen der Kapitalismus selbst so erscheinen konnte. Deshalb
geriet die antikapitalistische Revolte zur Revolte gegen die Juden.
Die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde
mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt.
(8)
III
Obwohl die innere Verbindung zwischen jener Art des
Antikapitalismus, der den Nationalsozialismus beein-flußte,
und dem Antisemitismus gezeigt worden ist, bleibt die Frage offen, warum die
biologische Interpretation der abstrakten Seite des Kapitalismus sich an den
Juden festmacht.
Diese Wahl war innerhalb des europäischen Kontextes keineswegs
zufällig. Die Juden hätten durch keine andere Gruppe ersetzt werden
Können. Dafür gibt es vielfältige Gründe. Die lange
Geschichte des Antisemitismus in Europa und die damit verbundene Assoziation
Juden = Geld ist wohlbekannt. Die Periode der schnellen Expansion des
industriellen Kapitals im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fiel mit der
politischen und gesellschaftlichen Emanzipation der Juden in Mitteleuropa
zusammen. Die Zahl der Juden an den Universitäten, in den freien Berufen,
im Journalismus, den schönen Künsten, im Einzelhandel nahm immer
schneller zu das heißt, die Juden wurden in der bürgerlichen
Gesellschaft rasch aufgenommen, besonders in Sphären und Berufen, die sich
gerade ausweiteten und mit der neuen Form verbunden waren, die die Gesellschaft
gerade annahm. Man könnte viele andere Faktoren berücksichtigen.
Einen möchte ich hervorheben: Ebenso wie die Ware, als gesellschaftliche
Form, ihren Doppelcharakter in dem entäußerten Gegensatz
zwischen dem Abstrakten (Geld) und dem Konkreten (der Ware) ausdrückt, so
ist die Bourgeoisie Gesellschaft durch die Trennung von (politischem) Staat und
(bürgerlicher) Gesellschaft charakterisiert. Im Individuum stellt sie sich
als Trennung zwischen Staatsbürger und (Privat-) Person dar. Als
Staatsbürger ist das Individuum abstrakt. Das drückt sich zum
Beispiel in der Vorstellung von der Gleichheit aller vor dem (abstrakten)
Gesetz (zumindest in der Theorie) aus oder in der Forderung eine Person,
eine Stimme. Als eine (Privat-) Person ist das Individuum konkret,
eingebettet in reale Klassenbeziehungen, die als privat angenommen
werden; das heißt, sie betreffen die bürgerliche Gesellschaft (im
Gegensatz zum Staat) und sollen keinen politischen Ausdruck finden. In Europa
war jedoch die Vorstellung von der Nation als einem rein politischen Wesen,
abstrahiert aus der Substantialität der bürgerlichen Gesellschaft,
nie vollständig verwirklicht. Die Nation war nicht nur eine politische
Entität, sie war auch konkret, durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte,
Traditionen und Religion bestimmt. In diesem Sinne erfüllten die Juden
nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung
von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion. Sie waren
deutsche oder französische Staatsbürger, aber keine richtigen
Deutschen oder Franzosen. Sie gehörten abstrakt zur Nation aber nur selten
konkret. Sie waren außerdem noch Staatsbürger der meisten
europäischen Länder.
Diese Realität der Abstraktheit, die nicht nur die Wertdimension in ihrer
Unmittelbarkeit kennzeichnet, sondern auch mittelbar den bürgerlichen
Staat und das Recht, wurde genau mit den Juden identifiziert. In einer Periode,
in der das Konkrete gegenüber dem Abstrakten, dem Kapitalismus
und dem bürgerlichen Staat verklärt wurde, entstand daraus eine
fatale Verbindung: Die Juden wurden als wurzellos, international und abstrakt
angesehen.
IV
Der moderne Antisemitismus ist also eine besonders gefährliche Form des
Fetischs. Seine Macht und Gefahr liegen darin, daß er eine umfassende
Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten antikapitalistischer
Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht.
Erläßt den Kapitalismus aber dahingehend bestehen, als er nur die
Personifizierung jener gesellschaftlichen Form angreift. Ein so verstandener
Antisemitismus ermöglicht es, ein wesentliches Moment des Nazismus als
verkürzten Antikapitalismus zu verstehen. Für ihn ist der Haß
auf das Abstrakte charakteristisch. Seine Hypostasierung des existierenden
Konkreten mündet in einer einmütigen, grausamen aber nicht
notwendig haßerfüllten Mission: der Erlösung der Welt von der
Quelle allen Übels in Gestalt der Juden.
Die Ausrottung des europäischen Judentums ist ein Anzeichen dafür,
daß es viel zu einfach ist, den Nazismus als eine Massenbewegung mit
antikapitalistischen Obertönen zu bewerten, die diese Hülse 1934 im
Roehm-Putsch abwarf, nachdem sie erst einmal ihren Zweck erreicht und sich in
Form staatlicher Macht gefestigt hatte.
Zum einen sind die ideologischen Formen nicht einfach
Bewußtseinsmanipulationen. Und zum anderen mißversteht diese
Auffassung das Wesen des Antikapitalismus der Nazis das
Ausmaß, in dem es der antisemitischen Weltanschauung innerlich verbunden
war. Es stimmt, daß auf den zu konkreten und plebejischen
Antikapitalismus der SA 1934 verzichtet wurde; nicht jedoch auf die
antisemitische Grundhaltung die Erkenntnis, daß die
Quelle allen Übels das Abstrakte sei der Jude.
Und die Folgen: Eine kapitalistische Fabrik ist ein Ort, an dem Wert produziert
wird, der unglücklicherweise die Form der Produktion von
Gütern annehmen muß. Das Konkrete wird als der notwendige
Träger des Abstrakten produziert. Die Ausrottungslager waren
demgegenüber keine entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern
müssen eher als ihre groteske arische antikapitalistische
Negation gesehen werden. Auschwitz war eine Fabrik zur Vernichtung des
Werts, das heißt zur Vernichtung der Personifizierung des
Abstrakten. Sie hatte die Organisation eines teuflischen industriellen
Prozesses mit dem Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu befreien.
Der erste Schritt dazu war die Entmenschlichung, das heißt die
Maske der Menschlichkeit wegzureißen und die Juden als das zu
zeigen, was sie wirklich sind, Schatten, Ziffern, Abstraktionen.
Der zweite Schritt war dann, diese Abstraktheit auszurotten, sie in Rauch zu
verwandeln, jedoch auch zu versuchen, die letzten Reste des konkreten
gegenständlichen Gebrauchswerts abzuschöpfen: Kleider,
Gold, Haare, Seife.
Auschwitz, nicht die Machtergreifung 1933, war die wirkliche
Deutsche Revolution die wirkliche Schein
Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsformation. Diese Tat
sollte die Welt vor der Tyrannei des Abstrakten bewahren. Damit jedoch
befreiten die Nazis sich selbst aus der Menschheit.
Militärisch verloren die Nazis den Krieg. Sie gewannen ihren Krieg, ihre
Revolution gegen das europäische Judentum. Sie ermordeten
nicht nur sechs Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer. Es ist
ihnen gelungen, eine Kultur zu zerstören eine sehr alte Kultur -,
die des europäischen Judentums. Diese Kultur war durch eine Tradition
gekennzeichnet, die eine komplizierte Spannung von Besonderheit und
Allgemeinheit in sich vereinigte. Diese innere Spannung wurde als
äußere in der Beziehung der Juden zu ihrer christlichen Umgebung
verdoppelt. Die Juden waren niemals völlig Teil der größeren
Gesellschaften, in denen sie lebten; sie waren auch niemals völlig
außerhalb dieser Gesellschaften. Dies hatte für die Juden
häufig verheerende Auswirkungen, manchmal jedoch auch sehr fruchtbare.
Dieses Spannungsfeld sedimentierte sich im Zuge der Emanzipation in den meisten
jüdischen Individuen. Die schließlich Lösung dieser Spannung
zwischen Besonderem und Allgemeinem ist in der jüdischen Tradition eine
Funktion der Zeit, der Geschichte die Ankunft des Messias. Vielleicht
jedoch hätte das europäische Judentum angesichts der
Säkularisierung und Assimilation jene Spannung aufgegeben. Vielleicht
wäre jene Kultur schrittweise als lebendige Tradition verschwunden, bevor
die Auflösung des Besonderen und des Allgemeinen verwirklicht worden
wäre. Hierauf wird es niemals mehr eine Antwort geben Können.
_________________________________
Anmerkung: Ich möchte mich für die Diskussion und Kritik bei Barbara Brick, Dan
Diner und Jeffrey Herf bedanken. Der Aufsatz erschien zuerst in: Merkur,
H. 1/1982, S. 13-25. Aus dem Englischen übersetzt von Renate Schumacher
und Dan Diner.
Anmerkungen
(1) Der einzige jüngere Versuch in den westdeutschen Medien, die Ausrottung
der Juden durch die Nazis qualitativ zu bestimmen, wurde von Jürgen
Thorwald unternommen. (Der Spiegel vom 5. Februar 1979).
(2) Siehe z.B.: Norman Cohen, Warrant for Genocide, London 1967.
(3) Max Horkheimer: Die Juden und Europa, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 4,Hgg. von Alfred Schmidt,
Frankfurt am Main 1988, S. 308-331. Der Text entstand im Jahr 1939 und wurde
zuerst in der Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang VIII, New York
1939, Doppelheft 112, S. 115-137 veröffentlicht.
(4) George Mosse: The Crisis of German Ideology, New York 1964.
(5) Die erkenntnistheoretische Dimension der Marxschen Kritik ist dem
ganzen Kapital immanent, wurde aber nur im Rahmen seiner Warenanalyse
entschlüsselt dargestellt. Seine Kategorien sollen verstanden werden als
gleichzeitige Ausdrucksformen besonderer verdinglichter gesellschaftlicher
Beziehungen und Denkweisen. Dies unterscheidet sie wesentlich von der
Hauptströmung marxistischer Tradition, in der die Kategorien als
Bestimmungen einer ökonomischen Basis begriffen werden und das Denken als Überbauphänomen
aufgefaßt wird, das sich aus Klasseninteressen und Bedürfnissen
ableitet. Diese Form des Funktionalismus kann, wie erwähnt, die
Nicht-Funktionalität der Ausrottung der Juden nicht adäquat
erklären. Allgemeiner formuliert, kann sie nicht erklären, warum eine
bestimmte Denkform, die sehr wohl im Interesse bestimmter Klassen und anderer
gesellschaftlicher Gruppen liegen kann, eben diesen und keinen anderen
ideologischen Inhalt hat. Gleiches gilt für die aufklärerische Vorstellung von Ideologie (und Religion) als Ergebnis
bewußter Manipulation. Die Verbreitung einer bestimmten Ideologie
impliziert, daß sie eine Resonanz besitzen muß, deren Ursprung zu
erklären ist. Andererseits steht der von Lukacs, der Frankfurter Schule
und Sohn-Rethel weiterentwickelte Marxsche Ansatz jenen einseitigen Reaktionen
auf den traditionellen Marxismus entgegen, die jeden ernst zu nehmenden Versuch
aufgegeben haben, Denkformen historisch zu erklären und jeden Ansatz in
solche Richtung als Reduktionismus ablehnen.
(6) Proudhon, der in dieser Hinsicht als einer der geistigen
Vorläufer des modernen Antisemitismus gelten kann, meinte daher, die
Abschaffung des Geldes der erscheinenden Vermittlung genüge
bereits, um die kapitalistischen Beziehungen abzuschaffen. Kapitalismus ist
jedoch von vermittelten gesellschaftlichen Beziehungen gekennzeichnet, die in
Kategorien Formen vergegenständlicht sind, von denen Geld ein Ausdruck,
nicht aber Ursache ist. Proudhon verwechselt demnach die Erscheinungsformen
Geld als Vergegenständlichung des Abstrakten mit dem Wesen des Kapitalismus.
(7) Theorien, die den Nationalsozialismus als antimodern oder irrational darstellen, erklären die Wechselbeziehung dieser beiden Momente
nicht. Der Begriff Irrationalismus stellt den noch fortbestehenden Rationalismus gar nicht mehr in Frage und kann das positive Verhältnis einer
irrationalistischen, biologistischen Ideologie zur Ratio von Industrie und Technologie nicht erklären.
Der Begriff antimodern übersieht die sehr modernen Aspekte des Nationalsozialismus und
kann nicht angeben, warum nur einige Aspekte des Modernen aufgegriffen wurden und andere nicht. Beide Analysen sind einseitig und
repräsentieren nur die andere, die abstrakte Seite der oben beschriebenen
Antinomie. Tendenziell verteidigen sie unkritisch die bestehende
nichtfaschistische Modernität oder Rationalität. Damit ließen sie Raum für neue einseitige Kritik (diesmal
seitens Linker) wie etwa die von Foucault oder Glucksmann, die die heutige
moderne kapitalistische Zivilisation nur als abstrakte verstehen. All diese
Ansätze sind nicht nur unbrauchbar für eine Theorie des
Nationalsozialismus, die eine angemessene Erklärung für die
Verbindung zwischen Blut und Maschine geben soll, sie Können auch nicht aufzeigen, daß die
Gegenüberstellung von abstrakt und konkret, von positiver Vernunft und Irrationalismus keineswegs die Grenzen einer absoluten Wahl abstecken, sondern daß
die Pole dieser Gegensätze miteinander verbunden sind als antinomische
Ausdrücke der dualen Erscheinungsformen ein und desselben Wesens: der
kapitalistischen Gesellschaftsformation. (In diesem Sinn fiel Lukacs in seinem
unter dem Eindruck der unaussprechlichen Brutalität der Nazis
geschriebenen Buch Die Zerstörung der Vernunft hinter seine eigenen kritischen Einsichten in die Antinomien
bürgerlichen Denkens zurück, die er 25 Jahre zuvor in
Geschichte und Klassenbewußtsein entwickelt hatte.) So bewahren solche Ansätze die Antinomie,
anstatt sie theoretisch zu überwinden.
(8) Wollte man die Frage behandeln, warum der moderne Antisemitismus
so unterschiedlich stark in den verschiedenen Ländern verbreitet war und
warum er in Deutschland hegemonial geworden ist, dann müßte man die
oben entwickelte Argumentation in den entsprechenden sozialen und historischen
Kontext stellen. Was Deutschland betrifft, ist von der besonders raschen
Industrialisierung mit ihren weitreichenden sozialen Umwälzungen und dem
Fehlen einer vorausgegangenen bürgerlichen Revolution mit ihren liberalen
Werten und ihrer politischen Kultur auszugehen. Die Geschichte Frankreichs von der
Dreyfus-Affäre bis zum Vichi-Regime scheint aber zu zeigen, daß eine
bürgerliche Revolution vor der Industrialisierung keine ausreichende
Immunität gegen den modernen Antisemitismus gibt. Andererseits war der moderne
Antisemitismus in Großbritannien nicht sehr verbreitet, obwohl es dort
natürlich auch Rassentheorien und Sozialdarwinismus gab. Der Unterschied
könnte in dem Grad der Entwicklung der gesellschaftlichen Abstraktheit von
Herrschaft vor der Industrialisierung liegen. Unter diesem Gesichtspunkt kann
der Grad der Vergesellschaftung Frankreichs als zwischen dem Englands und zum
Beispiel dem Preußens betrachtet werden, gekennzeichnet durch eine
besondere Form der Doppelherrschaft: Ware und Staatsbürokratie. Beide sind Rationalitätsformen.
Sie unterscheiden sich jedoch durch den Grad an Abstraktheit, wodurch sie
Herrschaft vermitteln. Es scheint ein Zusammenhang zu bestehen zwischen der
institutionellen Konzentration konkreter Herrschaft im Frühkapitalismus
(Staatsbürokratie, Armee und Polizei eingeschlossen, Kirche) und dem
Ausmaß, in dem später die abstrakte Herrschaft des Kapitals nicht
nur als bedrohlich, sondern auch als mysteriös und fremd wahrgenommen
wurde.